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GAUSS ALS GEOMETER

PAUL STACKEL

Abdruck aus Heft 5 der Materialien für eine tcissenschaftliche Biographie von Gauss

gesammelt von F. Klein, M. Brendel und L. Schlesinger.

Nachrichten der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Mathem.- physik. Klasse, rj i ;

Vorgelegt in der Sitzung vom 26. Oktober 1917.

Xi Abh. 4.

AUS 221967 |

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1.

Einleitung').

Gauss gehört zu den grossen Mathematikern, deren eigentümliche Be- gabung schon in der ersten Jugend diu'ch ungewöhnliche Leistungen im Zahlenrechnen hervortrat. Auch während er das Collegium Carolinum zu Braunschweig besuchte 1792 1795), hat er viel gerechnet; schon im Jahre 1794 erfand er die Methode der kleinsten Quadrate. Auf umfangreiches numerisches Beobachtungsmaterial gründen sich auch die 177 5 beginnenden Untersuchungen in der höheren Arithmetik, die 1801 in den Disquisitiones arithmetkae einen ersten Abschluss erhalten. Neben die zahlentheoretischen Untersuchungen treten in diesen Jahren höchster Schaffenskraft die Ent-

1) Verzeichnis der Abkürzungen.

W. für C. F. G.^uss, Werke I— XI.

T. für das Wissenschaftliche Tagebuch, W. X l, S. 48S 572.

Br. G.-Scii. für Briefwechsel zwischen Gauss und Schum.\CHER I— VI, Altena 1S60— iss.^.

Br. G.-O. für Briefwechsel zwischen Gauss und Olbers, in W. OlüERS, Sein I.ebcn und seine Werke II i und IIa, Berlin lüüü und luou.

Br. G.-Bessel für Briefwechsel zwischen Gauss und Bessel, Leipzig tsso.

Br. G.-Bolyai für Briefwechsel zwischen Gauss und W. Bolyai, Leipzig I89'.i.

P. Th. für P. Stäckel und F. Engel, Die Theoi-ie der Parallellinien von Euklid bis auf Gauss, eine L'rkundensammlung ziu' Vorgeschichte der nichteuklidischen Geometrie, Leipzig 1895.

Bol. für W. und J. Bolyai, Geometrische Untersuchiuigen herausgegeben von P. St.\ckel; I. Leben und Schriften der beiden Bolyai, IL Stücke aus den Schriften der beiden Bolyai, Leipzig \:\\.\.

Lob. für N. Iw. Lobatsciiei'Skli, zwei geometrische Abhandlungen, aus dem Russischen übersetzt, mit Anmerkungen und mit einer Biographie des Verfassers von F. Engel, Leipzig 1S9S 'j;>.

Sartorius für W. Sartorius v. Waltershausen, Gaiss zum Gediichtniss, Leipzig i>58.

Bachmann für P. Bacumann, Über Gauss' zahlentheoretische Arbeiten, Materialien für eine wissenschaft- liche Biographie von Gauss, Heft I, I9ll; W. X2, Abb. 1.

Schlesinger für J^. Schlesinger, Über Gauss' Arbeiten zur Funktionentheorie, Materialien usw., Heft III, IUI 2; W. X2, Abh. II.

1*

4 STÄrKEI,, GAUSS ALS GEOMETER.

deckungen auf dem Gebiete der elliptischen Funktionen, und auch die Al- gebra gehört, wie das Tagebuch^) zeigt und die Dissertation (1799; bestätigt, zu den mathematischen Gegenständen, denen sich der junge Gauss zuwendet. Im Vergleich zur Analysis steht die Geometrie im Hintergrunde; doch lässt eine Aufzeichnung im Tagebuch vom September 1799 (T. Nr. 99) schon die grosse Frage nach den Gründen der Geometrie anklingen.

Die nun einsetzende astronomische Periode, die sich bis etwa 1816 er- streckt, l)ringt nach Aussen hin keine wesentliche Änderung, denn unt(>r den Veröffentlichungen kommen nur Beiträge zur elementaren Geometrie in Be- tracht. Nachlass und Briefwechsel zeigen jedoch, dass die Forschungen über die Grundlagen der Geometrie nicht geruht haben, und gerade in der Zeit zwischen 1810 \md 1816 ist Gauss zu den grundlegenden Begi'iffen und Sätzen aus der Lehre von den krummen Flächen gelangt.

Mit dem Jahre J816 beginnt die Zeit der Geodäsie. Vorbereitet durch theoretische Arbeiten über die kürzesten Linien auf dem Sphäroide, betätigt sich Gauss 1821 bis 1825 bei den Messungen im Felde. Den Weg zu Grösserem bahnend, vcrfasst er 1822 die Kopenhagener Preisschrift über die konforme Abbildung krummer Flächen, imd 1828 erscheinen, als reife Frucht langer Mühen, die Disqidsitiones generales circa superficies curvas, in denen aus den Anwendungen heraus ein neuer Zweig der reinen Mathematik selbständiges Leben gewinnt.

Noch zu einer zweiten Reihe von Untersuchungen hat die geodätische Tätigkeit den Anstoss gegeben, zu sehr eingehenden Forschungen über die Grundlagen der Geometrie. Hier ist Gauss nicht dazu gelangt, seine Gedanken ausführlich niederzuschreiben, und wir sind auf spärliche Notizen und einzelne Stellen in Briefen angewiesen.

Es folgt die Periode der mathematischen Physik. Als diese etwa 1841 geendet hat, kommt es zu einer Nachblüte der geometrischen Forschung. Es entstehen die beiden Abhandlungen über Gegenstände der höheren Geodäsie '1843 und 1846); die Grundlagen der Geometrie werden wieder aufgenommen und erweiterte Auffassungen gewonnen, geometrische Aufgaben verschiedener Art werden behandelt, und Gauss kehrt auch zu zwei Gebieten zurück, die

1) Das von Gauss während der Jahre IT.f.i bis 1815 geführte wissenschaftliche Tagebuch oder Notizen- joumal ist abgedruckt W. Xl, S. 48S— 572; es wird im Folgenden mit T. angeführt.

EINLEITUNG. 5

ihn von jeher angezogen hatten und denen er hohe Bedeutung beimass: zur Geometria situs und zur geometiischen Versinnlichung der komplexen Grössen. Wie Sartorius'] berichtet (S. 80), hat Gauss sich dahin geäussert, »in seiner frühesten Jugend habe ihm die Geometrie wenig Interesse eingeflösst, welches sich erst später bei ihm in hohem Masse entwickelt habe«. Die Arithmetik war- imd blieb ihm die »Königin der Mathematik«, deren Hofstaat die andern Zweige der Analysis angehörten. Gewiss war ihm das geometrisch- anschauliche Denken nicht fr-emd, aber bei seinen geometrischen Untersuchungen hat er fast überall die analytischen Methoden bevorzugt. »Es ist nicht zu leugnen«, heisst es in der Besprechung der Geometrie descriptive von Monge /W. IV, S. 359;, »dass die Vorzüge der analytischen Behandlung vor der geometrischen, ihre Kürze, Einfachheit, ihr gleichförmiger Gang, und be- sonders ihre Allgemeinheit, sich gewöhnlich um so entschiedener zeigen, je schwieriger und verwickelter die Untersuchungen sind«. Er war sich jedoch dessen wohl bewusst, dass »die logischen Hilfsmittel für sich nichts zu leisten vermögen und nur taube Blüten ti-eiben, wenn nicht die befi-uchtende, leben- dige Anschauung des Gegenstandes überall waltet« (W. IV, S. 366';. Die Pflege der rein geometrischen Methoden hielt er für »unentbehrlich beim frühern jugendlichen Studium, um Einseitigkeit zu verhüten, den Sinn für Strenge und Klarheit zu schärfen und den Einsichten eine Lebendigkeit und Unmittel- barkeit zu geben, welche durch die analytischen Methoden weit weniger be- fördert, mitunter eher gefährdet werden« "W. IV, S. 360', und er wünschte, »dass auch die rein geometrischen Behandlungen fortwährend kultiviert werden und dass die Geometrie wenigstens einen Teil der neuen Felder, die die x\na- lyse erobert, sich aneigne« (W. II, S. 186).

1) S.UITORIUS VON AValteeshacsex, Gaitss zum Gedächtnis, Leipzig issfi; im Folgenden mit Sär- TORiüs anseführt.

b STACKEL, GAUSS A1,S GEOMETEK.

Abschnitt I.

Die Grundlagen der Geometrie. 3.

Allgemeines über die Arbeitsweise von Gauss.

Bei den Grundlagen der Geometrie zeigt sich in hohem Masse eine Er- scheinung, der wir bei Gauss wiederholt begegnen: der Reichtum der Gedanken, die ihm, besonders in der Jugend, in solcher Fülle zuströmten, dass er ihrer kaum HeiT werden konnte (Sartorius, S. 7 8), steht in Gegensatz zu dem ge- ringen Umfang dessen, was er aufgezeichnet, ausgearbeitet und veröffentlicht hat. Wenn daher auch der folgende Bericht über die Arbeitsweise von Gauss mehr in eine (noch fehlende) Schilderung seiner gesamten wissenschaftlichen Persönlichkeit als in eine Darlegung seiner Arbeiten auf einem Teilgebiet der Mathematik zu gehören scheint, so dürfte er doch als Grundlage für das Ver- ständnis der folgenden Ausführungen nützlich sein, zumal dabei der Zusammen- hang mit den Grundlagen der Geometrie nicht aus dem Auge verloren wird.

Ein erster Grund für die Erscheinung, auf die wir hingewiesen haben, liegt darin, dass die Grösse des mathematischen Genies, das sich in Gauss offenbarte, in der Vereinigung schöpferischer und kritischer Kraft w^urzelt. Diese Eigentümlichkeit erkennt man schon in der Dissertation, und sie zeigt sich nicht weniger in den Disquisitiones arithmcticae. In den späteren Ver- öffentlichungen tritt die Kritik an den Leistungen anderer zurück, aber es bleibt als auszeichnendes Merkmal die »GAUSSSche Strenge«.

Die GAusssche Strenge erkennen wir schon äusserlich in der Form der Darstellung. «Es war zu aller Zeit Gauss' Streben, seinen Untersuchungen die Form vollendeter Kunstwerke zu geben; eher ruhete er nicht, und er hat daher nie eine Arbeit veröffentlicht, bevor sie diese von ihm gewünschte, durchaus vollendete Form erhalten hatte. Man dürfe einem Bauwerke, pflegte er zu sagen, nach seiner Vollendung nicht mehr das Gerüste ansehen« (Sar- torius, S. 82). Dieser Grundsatz spricht sich auch in dem Siegel aus, das Gauss benutzte; es zeigt einen Baum mit wenigen l<'rüchten und der Um- schrift: Pauca, sed matura.

DIE GRUNDLAGEN DER GEOMETRIE. 7

In Briefen an Schumacher, Encke und Bessel hat Gauss sich darüber geäussert, warum er von dieser klassischen Darstellungsart nicht abgehen wollte und konnte.

Als er nach Abschluss der geodätischen Messungen im Felde im Winti>r 1825/26 seine theoretischen Arbeiten wieder aufnimmt, klagt er am 2 1 . No- vember 1825 Schumacher gegenüber: »Der Wunsch, den ich immer bei meinen Arbeiten gehabt habe, ihnen eine solche Vollendung zu geben, ut nihil amplius desiderari possit'), erschwert sie mir freilich ausserordentlich« (W. VIII, S. 400). Schumacher antwortet am 2. Dezember 1825: »In Bezug auf Ihre Arbeiten und den Grundsatz, ut nihil amplius desiderari possit, möchte ich fast wünschen, und zum Besten der Wissenschaft wünschen, Sie hielten nicht so strenge daran. Von dem unendlichen Reichtum Ihrer Ideen würde dann mehr uns werden als jetzt, und mir scheint die Materie wichtiger als die möglich vollendetste Form, deren die Materie fähig ist. Doch schreibe ich meine Meinung mit Scheu hin, da Sie gewiss längst das pro und contra möglichst erwogen haben« (Br. G.-ScH. IL S. 41). Gauss erwiedert am 12. Februar 1826: »Ich war etwas verwundert über Ihre Äusserung, als ob mein Fehler darin bestehe, die Ma- terie zu sehr der vollendeten Form hintanzusetzen. Ich habe während meines ganzen wissenschaftlichen Lebens immer das Gefühl gerade vom Gegenteil gehabt, d. i. ich fühle, dass oft die Form vollendeter hätte sein können und dass darin Nachlässigkeiten zurückgeblieben sind. Denn so werden Sie es doch nicht verstehen, als ob ich mehr für die Wissenschaft leisten würde, wenn ich mich damit begnügte, einzelne Mauersteine, Ziegel etc. zu liefern, anstatt eines Gebäudes, sei es nun ein Tempel oder eine Hütte, da gewissermassen das Gebäude auch nur Form der Backsteine ist. Aber ungern stelle ich ein Gebäude auf, worin Hauptteile fehlen, wenngleich ich wenig auf den äusseren Aufputz gebe. Auf keinen Fall aber, wenn Sie sonst mit Ihrem Vorwurf auch Recht hätten, passt er auf meine Klagen über die gegen- wärtigen Arbeiten, wo es nur das gilt, was ich Materie nenne; und ebenso kann ich Ihnen bestimmt versichern, dass, wenn ich gern auch eine gefällige Form gebe, diese vergleichungsweise nur sehr wenig Zeit und Kraft in An- spruch nimmt oder bei früheren Arbeiten genommen hat« (Br. G.-Sch. II, S. 46).

1) Diese Wendung findet sich bei Euleu, siehe z. B. Nova acta acad. sc. Petrop. 4 ;i7s6 , I78'j, S. 73.

8 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

Als Gauss bald darauf an Schumacher eine kleine Abhandlung über den Heliotropen füi" die Astronomischen Nachrichten sendet (W. IX, S. 47 2), jRigt er hinzu: »Diesmal habe ich gewiss den Vorwurf nicht verdient, als ob ich der Form auf Kosten der Materie zuviel eingeräumt hätte, sondern eher das Gegen- teil« (Brief vom 28. November 1826, Br. G.-Sch. II, S. 81), und Schumacher sieht sich jetzt veranlasst, seine Meinung ausführlich auseinanderzusetzen. Am Schluss heisst es: »Ich glaubte, dies Ausfeilen könne ebenso gut ein anderer tun, und darin kann ich mich geirrt haben; worin ich mich aber nicht geirrt habe, ist die Behauptung, dass Sie das Erfinden nicht einem andern übertragen können. Jedes Jahr Ihres Lebens mehrt die Ihnen nur verständlichen An- deutungen neuer Ideen. Soll alles dieses verloren sein?« (Brief vom 2. De- zember 1826, Br. G.-ScH. II, S. 83).

Gauss verhielt sich solchen Anregungeji gegenüber durchaus ablehnend.

»Ich weiss«, schreibt er am 18. August 1832 an Encke, »dass einige meiner Freunde wünschen, dass ich weniger in diesem Geiste arbeiten möchte : das wird aber nie geschehen; ich kann einmal an Lückenhaftem keine rechte Freude haben, und eine Arbeit, an der ich keine Freude habe, ist mir nur eine Qual. Möge auch jeder in dem Geiste arbeiten, der ihm am meisten zusagt« (W. XI 1, S. 84).

Am 15. Januar 1827 berichtet er seinem Freunde Schumacher, er sei mit der Ausarbeitung der Abhandlung über die krummen Flächen ein gut Stück vorgerückt. »Ich finde dabei viele Schwierigkeiten, allein das, was man Aus- feilen oder Form mit Recht nennen könnte, ist doch keineswegs, was er- heblich aufhält (wenn ich die Sprödigkeit der lateinischen Sprache ausnehme), vielmehr ist es die innige Verkettung der Wahrheiten in ihrem Zusammen- hange, und eine solche Arbeit ist erst dann gelungen, wenn der Leser die gi'osse Mühe, die bei der Ausführung stattgefunden hat, gar nicht mehr er- kennt. Ich kann daher nicht leugnen, dass ich keinen recht klaren BegiifF davon habe, wie ich meine Arbeiten solcher Art anders, als ich gewohnt bin, ausführen könnte, ohne, wie ich mich schon einmal ausgedrückt habe, Mauer- steine anstatt eines Gebäudes zu liefern. Ich habe wohl zuweilen versucht, über diesen oder jenen Gegenstand bloss Andeutungen ins Publikum zu bringen; entweder aber sind sie von Niemand beachtet oder wie z. B. einige Äusserungen in einer Rezension G. G. Anz. 1816, p. 019 [W. IV, S. 364,

DIE GRUNDLAGEN DER GEOMETRIE. 9

VIII, S. 170], es ist mit Kot darnach geworfen. Also, insofern von wichtigen Gegenständen die Rede ist, etwas im Wesen Vollendetes oder gar nichts« (Br. G.-ScH. II. S. 93). Solche Andeutungen finden sich zahlreich in den Jugendwerken, sie fehlen aher auch nicht in den späteren Schriften. Wie sorgfältig Gauss dabei verfuhr, zeigt der Brief an Encke vom 18. August 1832, wo es heisst: »Es ist von jeher mein gewissenhaft befolgter Grundsatz gewesen, solche Andeutungen, die aufmerksame Leser in jeder meiner Schriften in grosser Menge finden (sehen Sie z. B. meine Disquis. arithmet. pag. 593 [art. 335]) stets dann erst zu machen, wenn ich den Gegenstand für mich selbst ganz abge- macht habe« (W. XI i, S. 84). Hiernach wird man im besonderen die vorher erwähnten Andeutungen in den Göttinger Anzeigen vom Jahre 1816 zu be- werten haben, die sich auf die Unbeweisbarkeit des Parallelenaxioms beziehen.

Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass Gauss bald, nachdem er sich bei Schumacher über die Ei-folglosigkeit seiner Andeutungen beklagt hatte, am 24. Juli und 14. August 1827 (Br. G.-Sch. II, S. 10 5, IM) durch seinen Freund die beiden Briefe Jacobis erhielt, mit denen dessen Untersuchungen über die elliptischen Funktionen beginnen (Jacobi, W^erke I, S. 29), und dass er nicht lange danach Abels Recherches kennen lernte, die ihm von seinen eigenen Untersuchungen «wohl ein Drittel vorweg-nahmen« Brief vom 30. Mai 1828, Br. G.-ScH. II, S. 17 7). Der ausschlaggebende Einfluss, den die berühmte Stelle im art. 335 der Disqidsitiones arithmeticae (W. I, S. 412) auf Abel und Jacobi geübt hat. ist anerkannt. Hier hat ein von Gauss ausgestreutes Samen- korn hunderfältige Frucht getragen, und auch andere Andeutungen sind nicht auf steinigen Boden gefallen.

Fast ein Vierteljahrhundert später ist derselbe Streitpunkt zwisclien den beiden Freunden noch einmal aufgetaucht, als nämlich Schumacher in den Astronomischen Nachrichten Jacobis Bearbeitung der C'ARLiMschen Abhandlung über die KEPLERSche Gleichung abdruckte und Gauss jenem mitteilte Brief vom 4. Dezember 1849, Br. G.-Sch. VI, S. 51), er habe die Aufgabe schon vor langer Zeit »auf eine ohne allen Vergleich kürzere Art aufgelöst« i^W. X i, S. 420 428). »Wenn ich nicht wüsste«, hatte Schumacher geantwortet, »wie- viel Zeit Ihnen die letzte Feile Ihrer Arbeiten kostet, so würde ich um Ihre Abhandlung bitten« (Brief vom 5. Dezember 1849, Br. G.-Sch. VI, S. 52). Gauss erwidert, er sei nicht abgeneigt, eine ilmi zu Teil werdende Müsse X 2 Abh. 4. 2

10 STÄCKEL, GAUSS AhS GEOMETER.

zur Ausarbeitung einer Abhandlung über den Gegenstand zu verwenden; es werde aber erhebliche Zeit erfordert werden, um die ganze Theorie in einer ihm selbst genügenden Gestalt auszuführen. »Sie sind ganz im Irrtum, wenn Sie glauben, dass ich darunter nur die letzte Politur in Beziehung auf Sprache und Eleganz der Darstellung verstehe. Diese kosten vergleichungsweise nur unbedeutenden Zeitaufwand; was ich meine, ist die innere Vollkommenheit. In manchen meiner Arbeiten sind solche Inzidenzjjunkte. die mich jahrelanges Nachdenken gekostet haben, und deren in kleinem Raum konzentrierte Dar- stellung nachher niemand die Schwierigkeit anmerkt, die erst überwunden werden mussj^te]« 'Brief vom 5. Februar 1850, Br. G.-Sch. VI, S. 58).

Ähnliche Äusserungen finden sich in dem Briefe an Bessel vom 28. Fe- bruar J839 (Br. G. -Bessel, S. 524); ihnen gegenüber vertritt BesscI in dem Briefe vom 28. Juni 1839 (Br. G. -Bessel, S. 526) mit grosser Wärme den Standpunkt, den Schumacher in dem Briefe vom 2. Dez. 1826 eingenommen hatte.

Die vollendete Darstellung, bei der Archimedes und Newton für Gauss die Vorbilder waren, sollte nur das äussere Zeichen der inneren Vollkommen- heit sein, und hier erst gewinnt das Wort von der GAUSSSchen Strenge seine wahre Bedeutung. Von den Geometern des 18. Jahrhunderts war in der Freude über die Fülle neuer Entdeckungen, zu denen die Infinitesimal- rechnung die Mittel bot, die Sicherung der Grundlagen ausser Acht gelassen worden. Sehr stark tritt das bei Euler hervor, bei dem gerade die grund- legenden Betrachtungen viel zu wünschen übrig lassen '). Dagegen finden sich schon bei d'Alembert Ansätze zu einer kritischen oder besser skeptischen Auffassung, und Lagrange hat in der Theorie des fonctions analytlques geradezu das Ziel erstrebt, den Beweisen den Charakter einleuchtender Gewissheit und Strenge zu geben, der die Lösungen der Alten auszeichnet'). Der »rigor apud veteres consuetus« ist es, den der junge Gauss im bewussten Gegensatz zu den Gepflogenheiten des 18. Jahrhunderts auf seine Fahne geschrieben hat'). Im hohen Alter hat er Schumacher gegenüber seine Überzeugung mit folgenden

1) Vgl. etwa L. Schlesinger und F. Engei, in der Vorrede zu Eulehs Inslüuticmes calculi inte- gralis, Opera omnia, ser. I, vol. ii, Leipzig 1'j13, S. XIII.

•i) J. L. Lagrange, Tliiorie des fonctions analytiques, Paris 17S)7; Oeuvres, t. a, S. 184. 3) C. F. GAi;.f.s, Disqidsitiones arithmeticae, Lipsiae isni, Praefatio ; W. 1, S. 5.

DIE GRUNDLAGEN DER liEOMETRIE. 11

Worten ausgesprochen: »Es ist der Charakter der Mathematik der neueren Zeit lim Gegensatz gegen das Altertum , dass durch unsere Zeichensprache und Namengebungen wir einen Hebel besitzen, wodurch die verwickeltsten Argumentationen auf einen gewissen Mechanismus reduziert werden. An Reichtum hat dadurch die Wissenschaft unendlich gewonnen, an Schönheit und Solidität aber, wie das Geschäft gewöhnlich betrieben wird, eben so sehr verloren. Wie oft wird jener Hebel eben n\u- mechanisch angewandt, obgleich die Befugnis dazu in den meisten Fällen gewisse stillschweigende Voraus- setzungen impliziert. Ich fordere, man soll bei allem Gebrauch des Kalküls, bei allen BegiifFsverwendungen sich immer der ursprünglichen Bedingungen bewusst bleiben, und alle Produkte des Mechanismus niemals über die klare Befugnis hinaus als Eigentum betrachten. Der gewöhnliche Gang ist aber der, dass man für die Analysis einen Charakter der Allgemeinheit in Anspruch nimmt und dem Andern, der so herausgebrachte Resultate noch nicht für bewiesen anerkennt, zumutet, er solle das Gegenteil nachweisen. Die Zu- mutung darf man aber nur an den stellen, der seinerseits behauptet, ein Resultat sei falsch, nicht aber dem, der ein Resultat nicht für bewiesen aner- kennt, welches auf einem Mechanismus beruhet, dessen ursprüngliche, wesent- liche BedingTingen in dem vorliegenden Fall gar nicht zutreffen« Brief an Schumacher vom 1. September J850, W. Xi, S. 434;.

Ein zweiter Grund für das Missverhältnis zwischen dem Reichtum an Gedanken, die »bei der unglaublichen Produktivität in dem mächtigen Gehirn auftauchten« Sartorius, S. 79), und dem verhältnismässig geringen Umfang der rein mathematischen ^'eröffentlichungen von Gauss liegt in Hemmungen innerer und äusserer Art, die bei seiner Art des Arbeitens dem Druckfertig- machen entgegenstanden.

In dem schon erwähnten Briefe an Bessel vom 28. Februar IS. 3 9 hatte Gauss mit einer bei ilim ungewöhnlichen Heftigkeit des Tones hervorgehoben, er brauche zum Ausarbeiten »Zeit, viel Zeit, viel mehr Zeit, als Sie sich wohl vorstellen mögen. Und meine Zeit ist vielfach beschränkt, sehr beschränkt«. Solche Klagen über Mangel an Zeit für die theoretischen Untersuchungen wiederholen sich beständig in den Briefen. Die glücklichste Zeit seines Lebens sind wohl jene neun .Jahre von 1799 bis 180 7 gewesen, die er als Scliützling des »edlen Fürsten, dem er alles, was er war, verdankte« ^Brief an Oi.uers

12 STÄCKEL, GAUSS ALS GKOMETER.

vom 'IH. Februar 1802, Br. G.-C). 1, S. 14) in Braiinschweig zugebracht hat. Noch im Alter hat er dieser Jahre mit Rührung und Dankbarkeit gedacht. So schreibt er am 15 Februar 184 5 an Encke über Eisenstein, der damals mit Unterstützung des Königs von Preussen in freier Müsse seinen mathe- matischen Forschungen nachging: »Er lebt noch in der glücklichen Zeit, wo er sich ganz seiner Begabung hingeben kann, ohne dass er nötig hätte, sich durch irgend etwas Fremdartiges stören zu lassen. Ich werde lebhaft an die länest vei-tiossenen Jahre erinnert, wo icli in ähnlichen Verhältnissen lebte. Von der andern Seite erfordern auch gerade die rein mathematischen Spekulationen eine unverkümmerte und unzerstückelte Zeit« (Brief im Gauss- Archivi.

Die Pflichten der Professur haben schwer auf Gauss gelastet, zunächst sein Amt als Leiter der Göttinger Sternwarte. »So sehr ich die Astronomie liebe«, schreibt er am 28. Juni 1820 an Bessel (Br. G.-Bessel, S. 353), »fühle ich doch das Beschwerliche des Lebens eines praktischen Astronomen, ohne Hilf(-, oft nur zu sehr, am peinlichsten aber darin, dass ich darüber fast gar nicht zu irgend einer zusammenhängenden grösseren theoretischen Arbeit kommen kann«.

Hierzu traten seit 1821 die geodätischen Messungen, und wenn auch die mühsamen und zeitraubenden Arbeiten im Felde für Gauss selbst mit dem Jahre 1825 beendet waren, so behielt er doch die Oberaufsicht über die Tri- angulationen und führte die abschliessenden Rechnungen. »Mehr als zwanzig Jahre hindurch«, sagt Gaede'). »hat Gauss unter der ermüdenden Last dieses Geschäftes gelebt und gelitten, welches, wenn einmal in Gang gebracht und in zweckmässiger Weise schematisch organisiert, von jedem andern ebenso gut hätte besorgt werden können, während Gauss durch die massenhafte, und sobald die Methode feststand, im Wesentlichen niu: noch mechanische Rechen- arbeit der Müsse verlustig ging, deren er für seine schöpferische Tätigkeit auf spekulativem Gebiet, nach seinem eigenen Zeugnis, in hohem Masse be- durfte«.

Dazu kam die Verpflichtung. Vorlesungen zu halten. »Für eine mathe- matische Lehrstelle hat er eine ganz entschiedene Abneigung«, hatte Olbers j

1) Gaede, Beiträge zur Kenntnis von Gauss' praktisch - geodätischen Arbeiten, Zeitschrift für Ver- mesgiingswesen, Bd. 14, isss; :mch als selbständiges Werk, Karlsriilie issr,, erschienen, S. (;s.

DIE URUNDT.AGE^ DER GEOMETKTE. 13

am 3. November J80 2 au Heeren in Göttingen geschrieben, als es sich um eine Berufung von Gauss an die dortige Universität handelte, »sein Lieblings- wunsch ist, Astronom bei irgend einer Sternwarte zu werden, um seine ganze Zeit zwischen Beobachtungen und feinen, tiefsinnigen Untersuchungen zur Er- weiterung der Wissenschaft teilen zu können« (Sartorius, S. 31). Allein seine Stellung an der Universität brachte es mit sich, dass er »das Handwerk eines Professors« (Sartorius, S. 96) ausiUien musste. Er hat es mit der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit getan, aber schon in dem Briefe an Bessel vom 2 7. Januar 1816 (Br. G. -Bessel, S. 232) nennt er das Kollegienlescn »ein sehr lästiges, undankbares Geschäft», und ganz besonders bitter werden seine Klagen, als die Last der geodätischen Messungen hinzukommt. Die in Aussicht stehende Berufung nach Berlin veranlasst ihn 1824 zu dem Ausruf: »Ich bin ja hier so weit davon entfernt, Herr meiner Zeit zu sein. Ich muss sie teilen zwischen Kollegia lesen (wogegen ich von jeher einen Widerwillen gehabt habe, der, wenn auch nicht entstanden, doch vergrössert ist durch das Gefühl, welches mich immer dabei begleitet, meine Zeit wegzuwerfen) und praktisch astrono- mische Arbeiten. . . . Was bleibt mir also für solche Arbeiten, auf die ich selbst einen höhern Wert legen könnte, als flüchtige Nebenstunden? Ein anderer Charakter als der meinige, weniger empfindlich für unangenehme Ein- drücke, oder ich selbst, wenn manches andere anders wäre, als es ist, wüi"de vielleicht auch solchen Nebenstunden noch mehr abgewinnen, als ich es im allgemeinen kann« (Brief an Bessel vom 14. März 1824, Br. G. -Bessel, S. 428). Es Hessen sich den Briefen an die vertrauten Freunde noch zahl- reiche Klagen dieser Art entnehmen. Hier möge nur noch eine Stelle aus dem Briefe an Gebers vom 19. Februar 1826 (Br. G.-O. 2, S. 438) angeführt werden: »Unabhängigkeit, das ist das grosse Losungswort für die Geistes- arbeiten in die Tiefe. Aber wenn ich meinen Kopf voll von in der liuft schwebenden geistigen Bildern habe, die Stunde heranrückt, wo ich Kollegien lesen muss, so kann ich Ihnen nicht beschreiben, wie angreifend das Ab- springen, das Anfrischen heterogener Ideen für mich ist, und wie schwer mir oft Dinge werden, die ich unter andern Umständen für eine erbärmliche ABC- Arbeit halten würde. . . . Inzwischen, lieber Olbeüs, will ich Sie nicht mit Klagen über Dinge [er]müden, die niclit zu ändern sind; nu-ine ganze Stellung

14 STÄCKEL, GAUSS ALS GKOMETER.

im Leben müsstc> eine andere sein, wenn dergleichen Widerwärtigkeiten nicht öfter eintreffen sollten«.

Aus den vorstehenden Äusserungen klingt heraus, dass es nicht nur Mangel an Müsse war, der den Fortgang der theoretischen Forschungen hemmte, son- dern dass in der Gemütsverfassung von Gauss Hinderungen lagen. »Es ist wahr«, schreibt er am 20. April 1848 an seinen Jugendfreund Bolyai (Br. G.- BoLYAi, S. 132', »mein Leben ist mit Vielem geschmückt gewesen, was die Welt für beneidenswert hält. Aber glaube mir, lieber Bolyai, die herben Seiten des Lebens, wenigstens des meinigen, die sich wie der rote Faden da- diu-ch ziehen und denen man im höheren Alter immer wehrloser gegenüber- steht, werden nicht zum hundertsten Teil aufgewogen von dem Ertreulichen. Ich will gern zugeben, dass dieselben Schicksale, die zu tragen mir so schwer geworden ist und noch ist, manchem andern viel leichter gewesen wären, aber die Gemütsverfassung gehört zu unserm Ich, der Schöpfer unserer Existenz hat sie uns mitgegeben, und wir vermögen wenig daran zu ändern«. Es ist hier nicht der Ort, von dem Leid zu sprechen, das Gauss mehr als einmal in seinem Hause betroffen hat. Es hat »die Heiterkeit des Geistes«, die er zur wissenschaftlichen Arbeit nötig hatte, "nur zu sehr und zu vielfach getrübt« Brief an Bessel vom 28 Februar 1839, Br. G.-Bessel, S. 524).

Die Empfindlichkeit für unangenehme Eindrücke, von der Gauss in dem Brief an Bessel vom 14. März 1824 spricht, hat sicherlich dazu beigetragen, dass er es vermied, in seinen Veröffentlichungen Gegenstände zu berühren, die zu Streitigkeiten Aulass geben konnten. Wie behutsam geht er in seiner Dissertation mit den imaginären Grössen um, und gar ihre geometrische Deu- tung, die er nach seinem Zeugnis schon vor 1799 besass, hat er damals unter- drückt und erst 1831 bekannt gemacht. Ebenso hat er seine antieuklidische Geometrie nicht zur Veröffentlichung ausgearbeitet. »Vielleicht wird dies auch bei meinen Lebzeiten nie geschehen, da ich das Geschrei der Böoter scheue, wenn ich meine Ansicht ganz aussprechen wollte« Brief an Bessel vom 27. Januar 1829, W. VHI, S. 200).

Diese Scheu war verstärkt Avorden durch böse Erfahrungen, die Gauss machen musste, als er 1816 in der Besprechung der Parallel entheorien von Sciiwai! und Metternich (W. TV, S. 304, VHL S. 170) Andeutungen über die Unbeweisbarkeit des elften EuKLinischen Axioms gewagt hatte: »Es ist mit

DIE GRUNDLAGEN DER GEOMETRIE. 15

Kot darnach geworfen«, schreibt er am 15. Januar 1827 an Schumacher Br. G.-ScH. II, S, 94)'). Solche Angriffe hatte Gauss wohl im Auge, wenn er am 25. August 1818 an Gerling schrieb: »Ich freue mich, dass Sie den Mut haben, sich [in Ihrem Lehrbuchj so auszudrücken, als wenn Sie die Möglich- keit, dass unsere Parallelentheorie, mithin unsere ganze Geometrie, falsch wäre, anerkennten. Aber die Wespen, deren Nest Sie aufstören, werden Ihnen um den Kopf fliegen^ (W. VIII, S. 179).

Dazu kam die geringe Meinung, die Gauss von der gi-ossen Mehrzahl der Mathematiker hatte. Bereits am 16. Dezember 1799 schreibt er an Wolfgang BoLYAi, der ihm einen Versuch, das Parallelenaxiom zu beweisen, übersandt hatte: »Mach' doch ja Deine Arbeit bald bekannt; gewiss wirst Du dafür den Dank zwar nicht des grossen Publikums ;worunter auch mancher gehört, der für einen geschickten Mathematiker gehalten wird) einernten, denn ich über- zeuge mich immer mehr, dass die Zahl der wahren Geometer äusserst gering ist, und die meisten die Schwierigkeiten bei solchen Arbeiten weder beurteilen noch selbst einmal sie verstehen können aber gewiss den Dank aller derer, deren Urteil Dir allein wirklich schätzbar sein kann« (W. VIII, S. 159). Als Wolfgang Bolyai dann im Jahre 1832 seinem Jugendfifeunde die Scientia spatii absolute vera seines Sohnes Johann übersandt hatte, in der das Rätsel der Parallelenfrage gelöst war , antwortete dieser am 6 März 183 2: »Die meisten Menschen haben gar nicht den rechten Sinn für das, worauf es dabei ankommt, und ieh habe nur wenige Menschen gefunden, die das, was ich ihnen mitteilte, mit besonderem Interesse aufnahmen. Um das zu können, muss man erst recht lebendig gefühlt haben, was eigentlich fehlt, und darüber sind die meisten Menschen ganz unklar« iW. VIII, S. 221). Noch schärfer äussert sich Gauss in einem Briefe an Gerling vom 25. Juni 1815: »Mir däucht. es ist in mehr als einer Rücksicht wichtig, bei den Schülern den Sinn für Rigor wach zu erhalten, da die meisten Menschen nur gar zu geneigt sind, zu einer laxen Observanz überzugehen. Selbst unsere grössten Mathematiker haben meistenteils in dieser Rücksicht etwas stumpfe Fühlhörner» ^Brief im Gauss- Archiv). Ein gut Teil Menschenverachtung aber steckt in dem Rat, den Gauss am 29. September 1837 seinem jüngeren Freunde Möbius erteilt: »Man

1) Von wem der bösartige Angriff' ausgegangen ist, hat sich nocli nicht ermitteln hissen.

16 STÄCKEI,. GAUSS ALS GEOMETER.

muss immer bedenken, dass, wo die Leser, für welche man schreibt, keinen Austoss nehmen, es vielleicht gar nicht wohlgetan wäre, tiefer einzudringen, als ihnen frommt« (W. XI i, S. 19).

Gauss hat bei seinen Klagen über mangelndes Verständnis wohl auch an die Briefe gedacht, die er im Jahre 1831 mit Schumacher gewechselt hatte, als dieser glaubte, das Parallelenaxiom bewiesen zu haben (W. VIII, S. 210 2 1 9). Schumacher liess sich von der Unzulänglichkeit seines Verfahrens nicht überzeugen und sandte den ausführlichen Brief GAussens vom 12. Juli 1831 an Bessel. »Eine tolle Geschichte«, antwortete dieser am 1. Aug. 1831, »ist doch die im GAUssschen (hier ziuückfolgenden) Briefe vorkommende, dass die Peripherien zweier Kreise von den Halbmessern /• und r' nicht im Verhältnis r : >•' stehen sollen. Ich bezweifele dieses nicht, weil Gauss es sagt; allein diese Ungleichheit ist mir so wenig anschaulich, dass ich mir, nach dem alten KuLENKAMPschen Ausdruck') kein Denkbild davon machen kann« (Abschrift des Briefes im GAUss-Archiv).

Die Zurückhaltung, die Gauss übte, brachte die Gefahr mit sich, dass andere ihm zuvorkamen, und das ist auch wiederholt geschehen. Aber in diesem Punkte war Gauss unempfindlich. Am 30. Januar 1812 schreibt er an Laplace: »J'ai dans mes papiers beaucoup de choses dont peut-^tre je pouiTai perdi'e la priorite de la publication, mais soit, j'aime mieux, faire mürir les choses« ^W. Xi, S. 374), und als Abel seine Rechcrches veröffent- licht hatte, begnügt er sich damit festzustellen, dass der Norweger ihn in Bezug anf etwa ein Drittel der Sachen der Mühe überhoben habe, sie aus- zuarbeiten, »zumal da er alle Entwickelungen mit vieler Eleganz und Kon- zision gemacht« habe Brief an Bessel vom 30. März 1828, Br. G. -Bessel, S. 47 7). Bei Johann Bolyais Scientia spatii fand er es sogar höchst erfreulich, dass gerade der Sohn seines alten Freundes ilim auf eine so merkwürdige Art zuvorgekommen sei (Brief vom 6. März 1832, W. VIII, S. 221).

1) Andrkas GottlIEJ) Kulenkamp hiess der Inhiiber des Iliuidelsliaiises in Bremen, bei dem Bessel von Itus» bis ihu« tätig gewesen war.

DIE GRUNDLAGEN DER GEOMETRIE. 17

A. Von den Anfängen der nichteuklidischen Geometrie bis zur Entdeckung der transzendenten Trigonometrie il792 1817).

3.

Einleitendes. Die Jugendzeit (1792—1795).

Als Jacobi am 5. August 1827, auf Grund eines Briefes, den Schumacher an ihn gerichtet hatte. Legendre mitteilte, Gauss habe schon 1808 einen Teil der von Jacobi in den Astronomischen Nachrichten veröffentlichten Sätze be- sessen (Jacobi, Werke I, S. 394), antwortete Legendre am 30. November: »Comment se fait-il que M. Gauss ait ose vous faire dire que la plupart de vos theoremes lui etaient connus et qu'il en avait fait la decouverte des 1808? Cet exces d'impudence n'est pas croyable de la part d'un homme qui a assez de merite personel pour n'avoir pas besoin de s'approprier les decouvertes des autres« (S. 398), und am 14. April 1828 setzt er hinzu: »II y a des gens comme M. Gauss, qui ne se feraient pas scrupule de vous ravir, s'ils le pouvaient, le fruit de vos recherches, et de pretendre qu'elles sont depuis longtemps en leui' possession. Pretention bien absurde assurement: car si M. Gauss etait tombe sur de pareilles decouvertes qui surpassent, k mes yeux, tout ce qui a ete fait jusqu'ici en analyse, bien sürement il se serait empress6 de les publier« (S. 418).

Der Nachlass von Gauss hat demgegenüber gezeigt, dass dieser bereits im Jahre 1797 begonnen hatte, die lemniskatischen Funktionen zu untersuchen, dass er bis zum Jahre 1800 die wesentlichen Eigenschaften der allgemeinen elliptischen Funktionen erkannt hatte und dass er im Jahre 1808 diese Unter- suchungen wieder aufgenommen und sich dem Problem der Teilung zugewandt hatte, auf das sich jene von Jacobi entdeckten Sätze beziehen.

Ebenso sind in anderen Fällen die Angaben, die Gauss über seine mathe- matischen Entdeckungen gemacht hat, durch Aufzeichnungen im Nachlass oder durch Briefe bis in die Einzelheiten hinein bestätigt worden. Wie konnte es auch anders sein, bei einem Manne von so gi'osser Wahrheitsliebe und Ge- wissenhaftigkeit? Dazu wurde Gauss durch ein ungewöhnlich treues Gedächtnis unterstützt. Auch hat er häufig die Aufzeichnungen aus den Jahren 1791) bis 1815 benutzt, die er sich in einem Notizenjournal oder Tagebuch gemaclit hatte (W. Xi, S 488 572); in der späteren Zeit pflegte er umgekehrt in Hand-

X2 Abh. 4. 3

18 STÄCKET,, GAUSS ALS GEOMETKR.

biicher kurze Bemerkungeu über mathematische Sätze einzutragen, die er in Briefen erwähnt hatte, (iewiss kommen gelegentlicli Angaben vor, die ein- ander zu widersprechen scheinen, allein in den allermeisten Fällen haben sie sich bei sorgföltiger Deutung in llbereinstinimung bringisn lassen, und so wird man den Äusserungen von Gauss über die Entstehung seiner Gedanken volles Vertrauen entgegenbringen dürfen.

Hiernach sind auch die Äusserungen zu beurteilen, di(> Gauss über die Anfange seiner Beschäftigung mit den Grundlagen der (ieometrie gemacht hat.

Am 28. November 1846 schreibt Gauss an Schumacher, er liabe schon im Jahre 1792, also mit 15 Jahren, an eine Geometrie gedacht, »die statt- finden müsste und strenge konsequent stattlinden könnte, wenn die EuKi,inische Geometrie nicht die wahre ist", das lieisst, wenn das elfte Axiom nicht gilt (W. VIII, S. 238'. Hiermit ist jedenfalls nur das erste Aufblitzen des Ge- dankens gemeint. Denn unmittelbar vorher, am 2. Oktober 1846, hatte Gauss zu Gerling geäussert, der Satz, dass in jeder vom Farallelenaxiom unab- hängigen CJeometrie der Flächeninhalt eines Vielecks der Abweichung der Summe der Aussenwinkel von 360" proportional ist, sei "der erste, gleichsam an der Schwelle liegende Satz der Theorie, den ich schon im Jahr 17 94 als notwendig erkannte« (W. VIII, S. 266). Wir werden sehen, dass diese Be- ziehung zwischen dem Inhalt und der Winkelsumme eines Vielecks einen Angelpunkt der GAUSSSchen Theorie gebildet hat. und dürfen daher annehmen, dass der Zeitpunkt, wo er zu einer solcluai grundkgendf'n Einsicht gelangt war, sich ihm fest eingeprägt hatte.

Als Woi.FGANG BoLYAi sciuem Jugendfreunde die Scientia spatii abso- lute vera seines Sohnes JoHAN^ übersandt hatte, bemerkte Gauss am 6. März 1832, der ganze Inhalt der Schrift komme fast durchgeliends überein »mit seinen eigenen, zum 'J'eile schon seit 30 bis 35 Jahren angestellten Medita- tionen« fW. VIII, S 22 r. Man wird damit bis auf die Jahre von 1797 bis 1802 zurückgeführt. Zu dieser Zeit hat Gauss also angefangen, in weiterem Umfange die Folgen zu entwickeln, die sich ergeben, wenn man die Wahr- heit des elften EuKi.inischen Axioms leugnet. In der Tat bringt das Tagebuch unter dem September 1799 T. Nr. 99 die Eintragung: »In principiis geome- triae egi'egios progressus fecimus«. Worin diese ausgezeichneten Fortschritte bestanden haben, wird noch zu erörtern sein.

niE GRUNDLAGEN DER (JEOMETRIE. 19

Gehen wir in der Reihe der Zeugnisse weiter. Kurz vorher, am 17. Mai 1831, hatte Gauss an Sciiumachek berichtet, er habe »angefangen, einiges von seinen Meditationen über die Parallellinien aufzAischreibeu. die zum Teil schon gegen 40 Jahr alt sind« (W. VIII, S. 213). Er geht also hier bis auf die keimhaften Ursprünge zurück, für die er die Jahre 1792 und 1794 genannt hatte. Dieselbe Datierung tindet sich in dem Briefe an Taurinus vom 8. No- vember 1824: »Ich vermute, dass Sie sich noch nicht lange mit diesem Gegen- stande [der Parallelentheorie I beschäftigt haben. Bei mir ist es über 3(» Jahr, und ich glaube nicht, dass jemand sich eben mit diesem zweiten Teil [wo die Winkelsumme des Dreiecks kleiner als zwei Rechte ist] mehr beschäftigt haben könne als ich, obgleich ich niemals darüber etwas bekannt gemacht habe« (W. VIII, S. 186).

4.

Fortschritte in den Grundlagen der Geometrie (1795 1799).

Als Gauss im Oktober 1795 seine Studien in Göttingen begann, hatte er bereits, wie wir bemerkten, die schwache Stelle des EuKLioischen Lehr- gebäudes erkannt und war wenigstens bei dem Inhalt der Vielecke den Folge- rungen nachgegangen, die sich aus der Verwerfung des Parallelenaxioms ergeben.

Untersuchungen über die Grundlagen der Geometrie haben gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Mathematiker und darüber hinaus weite Kreise der Gebildeten lebhaft beschäftigt. Von zwei Seiten waren Anregungen dazu gekommen.

Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts hatten, um nur einige wichtige Namen zu nennen, Hume, Leibniz, d'Alembert die Frage nach dem Wesen der mathematischen Erkenntnis aufgeworfen, und durch Kants Kritik der reinen Vernunft (1781, 17 87) war diese Frage geradezu in den Mittelpunkt der philosophischen Erörterungen gestellt worden. Dabei war es besonders die Parallelentheorie, an der sich Berufene und Unberufene versuchten, denn dem elften EuKuoischen Axiom fehlte jenes Merkmal der einleuchtenden Ge- wissheit, die dem Apriorischen eigen sein sollte ') ; es ist deutlich zu erkennen,

1) I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, l. Aufl. I78i, S. 2.5, J. Aufl. 1777, S. 3«: »So werden auph alle geometrischen Grundsätze . . . niemals ans allgemeinen Begriffen . . ., sondern aus der Anschauung, und zwar a priori mit apodiktischer Gcvvissheit horgeleitet".

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20 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

wie mit dem Jahre 1781 die Flut der Veröffentlichungen anschwillt, die sich auf die Parallelenfrage beziehen':.

Noch von einer anderen Seite kamen Einwirkungen. Der französische Umsturz führte zur Gründung neuer Hochschulen in Paris, der Ecole poly- technique und der Ecole normale, an die die bedeutendsten Mathematiker des Landes berufen wurden. Dies veranlasste sie, zu den Elementen ihrer Wissen- schaft zurückzukehren. Lagrange verschmähte es nicht, Vorlesungen über die Elemente der Arithmetik und Algebra zu halten^), und Legendre liess 1794 seine Elemente der Geometrie erscheinen, die einen ungewöhnlichen Erfolg hatten und 1823 ihre zwölfte Auflage erlebten^). In der Parallelen- theorie war Legendre bemüht gewesen, die bei Euklid vorhandenen Mängel zu beseitigen, aber die beständigen Änderungen bei den auf einander folgenden Aullagen zeigen, dass er auf schwankendem Boden stand; wie seine letzte, zusammenfassende Veröffentlichung vom Jahre 1833 erkennen lässt*), hat er sich niemals zu dem Gedanken der Unbeweisbarkeit des elften Axioms erheben können ').

1) Vgl. das Literaturverzeichnis bei F. Stäckel und F. Engel, die Theorie der Parallellinien von EiMid bis auf Gatiss, Leipzig isas; im Folgenden angeführt mit P. Th.

2) J. L. Lagrange, Lefons eUmentaires sur les mathimatiques, donnees ä l'Ecole normale en 1795, Oeuvres t. 7, S. 183.

3) A. M. Legendre, Elements de geometrie, Paris 1794; 12. ed., Paris 1823.

4) A. M. Legendre, Iteflexions sur les differentes manieres de demontrer la theoric des paralleles, Mem. de l'Acad., t. 12, annee 1828, Paris 1833, S. 367.

5) In dem Briefe an Olbers vom 30. Juli 180« (W. VIII, S. 13», 165) bemerkt Gauss, es scheine sein Schicksal zu sein, in fast allen seinen theoretischen Arbeiten mit Legendre zu konkurrieren, und führt dafür an: die höhere Arithmetik, die transzendenten Funktionen, welche mit der Rektifikation der Ellipse zusammenhängen, die ersten Gründe der Geometrie und die Methode der kleinsten Quadrate.

Für die höhere Arithmetik kommt in Betracht Legendres Essay sur la thiorie des nombres, Paris 1798, dessen Verhältnis zu den Disquisitiones arithnieticae Tscheisyscheff in seiner Theorie der Kongruenzen (deutsch von Schapira, Berlin 18S0) gut gekennzeichnet hat; im Besonderen ist noch das Reziprozitätsgesetz der quadratischen Reste zu nennen; vgl. Bachmann, W. X 2, Abh. 1, S. 14. Die elliptischen Integrale hat Legendre in dem grundlegenden Memoire sur les transcendantes elli2itiques, Paris 1;ü4 behandelt und ihnen dann zwei umfangreiche Werke gewidmet: Exercices de calcul integral, 3 Bände, Paris isii 1816; Traiti des fonctions elliptiques, 3 Bände, Paris I82.s— 1832. Die Methode der kleinsten Quadrate entwickelt Le- gendre in den Nouvelles mähodes pour la determination des orbites des com'etes, Paris isos,, während die Theoria motus corporum coelestium von Gaus.s erst isoii erschienen ist (vgl. auch W. VIII, S. 136—141 und X 1, S. 37 3 und 3 8 0).

Hinzuzufügen wäre noch, dass Gauss und I^egendke sich mit der Theorie und Praxis der Geodäsie beschäftigt haben und dass Legendres Satz über die Zurückführung eines kleinen sphärischen Dreiecks

DIE GRUNDLAGEN DER GEOMETRIE. 21

Die Universität Göttingen nahm lebhaften Anteil an der Bewegung, deren Hervortreten soeben geschildert wurde. Professor der Mathematik war damals K.\ESTNER 1719 1800;. Er hat die Literatur über die Parallelcntheorie eifrig gesammelt und eine noch heute wertvolle Dissertation, Ki.ügels Recennio cona- tuum praecipuorum theuriam paraUelarum demontitrandi vom Jahre 1703, veran- lasst. In dem Nachwort meint Kaestner, ein Beweis des Parallelenaxioms sei niu' zu erhoffen durch eine genauere Ausbildung der Geometrie der Lage, die mit Leibniz untergegangen sei. Gegenwärtig bleibe nur übrig, offen die Forderung Euklids als solche auszusprechen; niemand, der bei gesunden Sinnen sei. werde sie bestreiten wollen. In seinen späteren Vorlesungen hat Kaest- ner »an der Möglichkeit der Lösung verzweifelnd mit unbegi-eifiicher Resig- nation, anstatt nach der wahren Demonstration zu forschen, ein blindes An- nehmen angeraten« (P. Th. S. 139 141). Ähnlich wie Kaestner dachte auch sein Kollege an der Nachbar-Universität Helmstedt, Jon. Friede. Pfaff (1765 1825), der meinte, alles was sich tun Hesse sei, das Parallelenaxiom durch ein einfacheres zu ersetzen, es zu simplifizieren (P. Th. S. 2 1 5).

Als Gauss nach Göttingen kam, habilitierte sich gerade für Mathematik J. WiLDT (1770 1844; mit einer Probeschrift über die Parallelentheorie'). Ein Liebhaber auf diesem Gebiete war auch der ausserordentliche Professor der Astronomie Carl Felix Seyffer (1762 1822). Im Jahre 1801 hat er zwei Besprechungen von Versuchen, das Parallelenaxiom zu beweisen, in den Göttinger Gelehrten Anzeigen veröffentlicht; sie zeigen, dass er die Schriften mit Verständnis und Urteil gelesen hatte; ja Seyffer war zu der Einsicht

auf ein ebenes Dreieck mit ebenso langen Seiten auf die Untersuchungen von Gauss zur allgemeinen Lehre von den krummen Flächen anregend gewirkt hat. Auch bei der Anziehung der homogenen Ellipsoide sind beide zusammengetroffen ; für Legendke sind hier zu nennen die Abhandlungen in den Memoires des savants toangers, t. lo, Paris ivss und in den Memoires de l'Institut, annee isio, 2. partie, Paris isu. Endlich sind noch die Arbeiten über das von Gauss mit H, von Legendre mit F bezeichnete EULERsche Integral zu erwähnen {Exercices, t. 1, S. 222 307).

Die Vergleichung der Leistungen zeigt, dass Legendre mit scharfem Blick die Stellen erkannt hatte, an denen die mathematische Forschung mit Erfolg einsetzen konnte. Seinem unermüdlichen Fleiss und analytischen Geschick ist eine Reihe schöner Erfolge zu Teil geworden, jedoch blieb er überall auf einer Stufe stehen, die zu überschreiten erst dem Genie von Gauss vergönnt war. Mit besonderer Deutlichkeit tritt dies bei den Grundlagen der Geometrie hervor.

1) J. WlLDT, Theses quae de lineis parallelis respondent, Göttingen I7;i5. Wildt hat in den Göt- tinger Gelehrten Anzeigen, Jahrgang isoo, S. ireii— 1772 drei »auf reiner Anschauung beruhende Beweise, des elften Axioms veröffentlicht.

22 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

gekommen, dass »es mehr als zweifelhaft scheine, ob es überhaupt möglich sei, das elfte Axiom zu beweisen, ohne ein neues Axiom zu Hilfe zu nehmen« (P. Th. S. 214).

Während Gauss zu Kaestner und Wii.dt in kein uälieres Verhältnis ge- treten ist, hat er mit Seyffer verkehrt und ist mit ihm bis zu dessen Tode im Briefwechsel geblieben. Ihre Unterhaltungen haben auch die Parallelen- theorie betrotten, denn am 26. Juni 1801 schreibt Seyffer an Gauss: «Viel- leicht ist es Ihnen nicht uninteressant, dass die Rezension in der hiesigen Zeitung [den Gott. Gel. Anzeigen] über die Theorie der Parallelen von Schwab von mir war. Ich wünschte, dass Sie mir Ihre lehrreichen Ideen hierüber gelegentlich sagten« (Brief im GAuss-Archivi.

Im Hause Setffers hat Gauss seinen besten Jugendfreund, den Ungarn Wolfgang Bolyai kennen gelernt. »Als Wolfgang nach Göttingen kam«, erzählt sein Sohn Johann, »traf er mit Gauss zufällig bei dem Professor [Seyffer] zusammen und äusserte sich da freimütig und entschieden über die Leichtfertigkeit der Behandlung der Mathematik: kurz darauf begegnete er Gauss am Walle beim Spazierengehen; sie näherten sich einander. Mein Vater sprach unter anderem von seinen Gedanken behufs Erklärung der ge- raden Linie und der etwaigen Wege zum Beweise des elften Axioms, und der damals schon zum Koloss in den höheren Regionen der Wissenschaft, besonders der Zahlenlehre, emporgewachsene Gauss brach ergötzt, überrascht in die lakonischen Worte aus: Sie sind ein Genie; Sie sind mein Freund!, worauf sogleich das Band der Brüderschaft erfolgte« 'j. Über den Verkehr zwischen den beiden Freunden berichtet Wolfgang: »Er war sehr bescheiden und zeigte wenig; nicht di'ei Tage, wie mit Plato, jahrelang konnte man mit ihm zusammen sein, ohne seine Grösse zu erkennen. Schade, dass ich dieses titellose, schweigsame Buch niclit aufzumachen und zu lesen verstand. Ich wusste nicht, wie viel er weiss, und er hielt, nachdem er meine Art sah, viel von mir, ohne zu wissen, wie wenig ich bin. Uns verband die wahre (nicht oberflächliche) Leidenschaft für die Mathematik und unsere sittliche Über- einstimmung, so dass wir oft, mit einander wandernd, mit den eigenen Ge- danken beschäftigt stundenlang wortlos waren« (Bol. S. 9).

1) WoLFGANa und Johann Bolyai, Geometrische Untersuchungen, herausgegeben von P. Stäckel, Leipzig l'Ji:), I.Teil: Leben und Schriften dfr beiden BoLYAI, S. 8 ; im Folgenden angeführt mit BoL.

DIE GRÜNDLAGEN DER GEOMETRIE. 23

Was BoLYAi und Gauss über das Parallelenaxiom mit einander verhandelt haben, wissen wir nicht. Wohl aber wissen wir, dass Wolfgang, nachdem sein Freund im Herbst I 798 nach Braunschweig zurückgekehrt war, sich auge- strengt bemüht hat. das Axiom zu beweisen und dass er im Mai 1799 sein Ziel erreicht zu haben glaubte. Bolyai ist nämlich, ehe er Deutschland ver- liess, noch einmal mit Gauss zusammengetroffen. Am 24. Mai 1799 haben die beiden zu Klausthal im Harz von einander Abschied genommen, und bei dieser Zusammenkunft hat Wolfgang von seiner »Göttinger Parallelentheorie« erzählt. Hierauf bezieht sich eine Stelle des Briefes von Gauss an Wolfgang vom 16. Dezember 1799; »Es tut mir sehr leid, dass ich unsere ehemalige grössere Nähe nicht benutzt habe, um mehr von Deinen Arbeiten über die ersten Gründe der Geometrie zu erfahren; ich würde mir gewiss daduicli manche vergebliche Mühe erspart haben und ruhiger geworden sein, als jemand wie ich es sein kann, so lange bei einem solchen Gegenstande noch so viel zu desiderieren ist. Ich selbst bin in meinen Arbeiten darüber weit vorge- rückt (wiewohl mir meine andern ganz heterogenen Geschäfte wenig Zeit dazu lassen; ; allein der Weg, den ich eingeschlagen habe, führt nicht so wohl zu dem Ziele, das man wünscht und welches Du erreicht zu haben versicherst, als vielmehr dahin, die Wahrheit der Geometrie zweifelhaft zu macheu« iW. Vni, S. 159).

Die Ergebnisse, zu denen Gauss, wie das Tagebuch (T. Nr. 99) zeigt, im September 1799 gelangt war, hat er in dem Briefe nur angedeutet Er fährt fort: »Zwar bin ich auf manches gekommen, was den meisten schon für einen Beweis gelten würde, aber was in meinen Augen so gut wie Nichts beweist, z. B. wenn man beweisen könnte, dass ein geradliniges Dreieck möglich sei, dessen Inhalt grösser wäre als jede gegebene Fläche, so bin ich im Stande die ganze Geometrie völlig strenge zu beweisen. Die meisten würden nun wohl jenes als ein Axiom gelten lassen; ich nicht; es wäre ja wohl möglich, dass, so entfernt man auch die drei Eckpunkte des Dreiecks im Räume von einander annähme, doch der Inhalt immer unter (infra^i einer gegebenen Grenze wäre. Dergleichen Sätze habe ich mehrere, aber in keinem linde ich etwas Befriedigendes« (W. VIII, S. 159 .

Aufzeichnungen über die Untersuchungen, von denen Gauss spricht, sind uns nicht erhalten. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass der Brief an

24 STÄCKEL, GAUSS AT,S GEOMETER.

BoLYAi vom 6. März 1832 (W. VIII. S. 220) einen Teil dieser Untersuchungen wiedergibt. In diesem wiederholt angeführten Briefe sagt Gauss, dass er schon vor 30 bis 35 Jahren Meditationen über die Grundlagen der Geometrie angestellt habe und dass zu seiner Überraschung die Ergebnisse der Scientia spatii Johann Bol- YAis fast dui'chgehends damit übereinstimmten. In manchem Teile habe er etwas andere Wege eingeschlagen und als ein Specimen füge er in den Haviptzügen einen rein geometrischen Beweis des Lehrsatzes bei, dass in der antieuklidi- schen Geometrie die Differenz der Winkelsumme eines Dreiecks von 180" dem Flächeninhalte proportional sei. Der Beweis beginnt mit dem Satze, dass das asymptotische Dreieck, bei dem die drei Ecken im Unendlichen liegen, eine bestimmte endliche Area habe. Eine Herleitung wird nicht angegeben'. Für den Inhalt eines Dreiecks, bei dem eine Ecke im Endlichen liegt, während die Gegenseite zu den beiden anderen Seiten asymptotisch ist. ergibt sich dann eine Funktionalgleichung, die im Gebiete der stetigen Funktionen leicht gelöst werden kann. Nun entsteht ein ganz im Endlichen liegendes Dreieck aus einem asymptotischen Dreieck durch Wegnahme von solchen Dreiecken, bei denen eine Ecke im Endlichen liegt, und so folgt schliesslich die zu be- weisende Behauptung.

Wie immer auch Gauss im Jahre 17 99 vorgegangen sein mag, so zeigt sein Brief von 16. Dezember 1799 auf jeden Fall, dass er sich damals auf dem Wege befand, den vor ihm Saccheri (1733) und Lambert (1766) einge- schlagen hatten, nämlich planmässig die Folgerungen zu entwickeln, die sich aus der Annahme ergeben, das EuKuoische Parallelenaxiom sei nicht erfüllt. Da Gauss hierbei auf keinen Widerspruch kam, wurde ihm die Wahrheit der EuKLioischen Geometrie zweifelhaft. Den Gedanken, dass die nichteuklidische Geometrie »wahr« sein könne, hatte übrigens schon Lambert offen ausgesprochen (P. Th. S. 200).

Hierbei erheben sich die Fragen, ob Gauss jene Arbeiten gekannt und wann er sie möglicher Weise kennen gelernt hat. Gewiss sind sie ihm in der Göttinger Universitätsbibliothek, die er als Student fleissig benutzt hat.

1) Man kann durch eine einfache, nur die allerersten Eigenschaften asymptotischer Geraden be- nutzende Zeichnung ein solches Dreieck in ein inhaltgleiches, ganz im Endlichen liegendes Viereck ver- wandeln. Vgl. H. Liebmann, Zur nichteuklidischen Geometrie, Leipziger Berichte, Bd. 68, lao«, S. 5i;ii; Nichteuklidische Geometrie, 2. Aiifl., Leipzig IU12, S. s.i.

DIE GRUNDLAGEN DER GEOMETRIE. 25

zugänglich gewesen. Allein man muss bedenken, dass diese Schriften Wolf- gang BoLYAi unbekannt geblieben sind; dies geht mit voller Sicherheit aus den Äusserungen seines Sohnes hervor (Bol. S. 221 223).

Dass andererseits später in den Kreisen der Schüler von Gauss von Lam- berts Theorie der Parallellinien gesprochen wiude, zeigen Briefe von Bessel an Encke vom 9. Juli 1821 und von Encke an Bessel vom 13. Oktober 1821 (Abschriften im CJAUss-Archiv). Auch wird Lambert in dem Briefe Bessels an Gauss vom 10. Februar 1829 erwähnt (W. VELL S. 201). Endlich besass Gauss die Mathematischen Abhandlungen von J. W. H. Lehmann, Zerbst 1829, in denen Saccheri und Lambert angeführt werden; Randbemerkungen und Spuren des Gebrauches lassen darauf schliessen, dass Gauss darin geleseu und die auf die Parallelentheorie bezüglichen Stellen beachtet hat ').

Entscheidend für die Beurteilung der Leistung von Gauss ist der Umstand, dass weder Saccheri noch Lambert bis ziu- nichteuklidischen ebenen Trigono- metrie vorgedrungen sind, wenn ihr auch Lambert durch den Gedanken, »die dritte Hypothese komme bei einer imaginären Kugelfläche vor« (P. Th. S. 203) nahe gekommen war; denn erst die Trigonometrie sichert für die Ebene die Widerspruchslosigkeit der absoluten Geometrie und führt damit zu der Über- zeugung, dass alle Versuche, das Parallelenaxiom durch Konstruktionen in der Ebene zu beweisen, vergeblich sein müssen.

5.

Schwanken und Zweifel (1799 1805).

Wir kehren zu den Beziehungen zwischen Gauss und Bolyai zurück. Im Sommer 1799 nach Siebenbüi-gen ziu'ückgekehrt , war Wolfgang zunächst durch andere Geschäfte in Anspruch genommen worden und hatte die Mathe- matik liegen lassen. Erst nachdem er im Frühjahr 1804 die Professur für Mathematik und Physik am evangelisch -reformierten Kollegium zu Maros- Väsarhely angetreten hatte, nahm er die »Göttingische Parallelentheorie« wieder vor, feilte sie aus und sandte den Entwiuf am 16. September 1804 an Gauss. »Ich kann den Fehler nicht entdecken, prüfe Du der Wahrheit getreu und

1) Vgl. den Aufsatz von P. Stäckel : t. A.Taurirws, Al)handluugen zur Geschichte der Mathematik, Heft 9, Leipzig 1899, S. J27.

X -l Abh. 4. 4

26 STÄCKEI,. GAUSS ALS GEOMETER.

schreibe mir so bald als nur möglich. . . . Wenn Du dieses Werkchen davor wert hieltest (ich setze den Fall), so schicke es einer würdigen Akademie hin, dass es beurteilt werde« (Br. G.-Bolyai, S. 65).

Wie stellte sich Gauss zu den Bemühungen seines Freundes, das Paral- lelenaxiom zu beweisen? Anders, als man es nach seinem Briefe vom 16. De- zember 1799 erwarten durfte. Er schreibt am 25. November 1804: »Ich liabe Deinen Aufsatz mit grossem Interesse und Aufmerksamkeit durchgelesen und mich recht an dem echten gründlichen Scharfsinne ergötzt. Du willst aber nicht mein leeres Lob, das auch gewissermassen schon darum parteiisch scheinen könnte, weil Dein Ideengang sehr viel mit dem meinigen Ähnliches hat, worauf ich ehemals die Lösung dieses Gordischen Knotens versuchte und vergebens bis jetzt versuchte. Du willst nur mein aufrichtiges, unverhohlenes Urteil. LTnd dies ist, dass Dein Verfahren mir noch nicht Genüge leistet. Ich will versuchen, den Stein des Anstosses, den ich noch darin finde (und der auch wieder zu derselben Gruppe von Klippen gehört, woran meine Ver- suche bis jetzt scheiterten) mit so vieler Klarheit, als mir möglich ist, ans Licht zu ziehen. Ich habe zwar noch immer die Hoffnung, dass jene Klippen einst, und noch vor meinem Ende eine Durchfahrt erlauben werden. Indess liabe ich jetzt so manche andere Beschäftigungen vor der Hand, dass ich gegenwärtig daran nicht denken kann, und glaube mir, es soll mich herzlich freuen, wenn Du mir zuvorkommst und es Dir gelingt, alle Hindernisse zu übersteigen. Ich würde dann mit der innigsten l''r('U(l(' alles tun, um Dein Verdienst gelten zu machen und ins Liclit zu stellen, so viel in meinen Kräften steht« (W. VIII, S. 160).

BoLYAi hat diese Äusserungen als eine Ermunterung aufgefasst, sich weiter um den Beweis zu bemühen, und init Recht. »Meine Ideen gefielen ihm überhaupt gar sehr, und er machte mich [in dem Brief vom 25. November 1804] darauf aufwerksam, welch hochwichtige Sache die Materie der Parallelen sei, obwohl er davon [von der Göttingischen Parallelentheorie] doch keines- wegs befriedigt war« (Bol. S. 00). Am 27. Dezember J808 sandte er an Gauss einen Nachtrag (Br. G.-Bolyai, S. 96, vgl. Bol. S. 223). Als dieser keine Antwort gab, ist der Briefwechsel bis zum Jahre 1816 unterbrochen worden. Etwa bis zu diesem Jahre hat Wolfgang hart mit dem zweitausendjährigen Problem gerungen, und hat schliesslich nichts davon getragen, als die Ein-

DIE GRUNni.AGEN DER GEOMETRIE. 27

sieht, dass er alle seine Mühe verschwendet habe. »Schauderhafte, riesige Arbeiten habe ich vollbracht, habe bei Weitem Besseres geleistet, als bisher [geleistet wurdej, aber keine vollkommene Befriedigung habe ich je gefunden; hier aber gilt es: si paullum a summo discessit, vergit ad imum« Bol. S. 7 7).

Als Johann Bolyai von Wien aus, wo er seit 1818 Schüler der militäri- schen Ingenieur -Akademie war, im Frühjahr 1820 dem Vater mitteilte, dass er versuche, das elfte Axiom zu beweisen, war dieser aufs äusserste erschrocken und beschwor ihn mit den beweglichsten Worten, die Lehi-e von den Paral- lelen in Frieden zu lassen. »Verliere keine Stunde damit. Keinen Lohn bringt es, und es vergiftet das ganze Leben. Selbst durch das Jahi'hunderte dauernde Kopfzerbrechen von hundert grossen Geometcrn ist es schlechter- dings unmöglich, [das elfte] ohne ein neues Axiom zu beweisen. Ich glaube doch alle erdenklichen Ideen diesfalls erschöpft zu haben. Hätte Gauss auch fernerhin seine Zeit mit Grübeleien über dem elften Axiom zugebracht, so wären seine Lehren von den Vielecken, seine Theoria motus corporum coele- stium und alle seine sonstigen Arbeiten nicht zum Vorschein gekommen, und er ganz zurückgeblieben. Ich kann es schriftlich nachweisen, dass er seinen Kopf über die Parallelen zerbrach. Er äusserte mündlich und schriftlich, dass er fruchtlos darüber nachgedacht habe« (Bol. S. 90).

Durch die nachdrücklichen Warnungen seines Vaters wurde Johann nicht abgeschreckt, im Gegenteil, seine Begierde, um jeden Preis dui'ch zudringen, wuchs auf das heftigste [Bol. S. 79). Gegen Ende des Jahres 1823 gelang es ihm, den Gordischen Knoten zu durchhauen. Die unerwartete Lösung, die er fand, war damals bereits im Besitz von Gauss, der, wie wir sehen werden, nach langen Zweifeln um das Jahr 1816 zur Gewissheit gekommen war.

Am Eingang des Briefes vom 25. November 1804 hatte Gauss angedeutet, dass sein Ideengang Ähnlichkeit mit dem Wolfgangs habe. Dieser hatte die Linie betrachtet, die entsteht, wenn man in gleichweit von einander ab- stehenden Punkten einer Geraden nach derselben Seite Lote derselben Länge errichtet und die auf einander folgenden Endpunkte durch Gerade verbindet. Während man in der euklidischen Geometrie auf solche Art eine Parallele zur Grundlinie erhält, ergibt sicli in der nichteuklidischen Geometrie ein ge- brochener Linienzug, der aus gleich langen, unter gleichen Winkeln an ein- ander stossenden Strecken besteht. Bolyai hatte zu zeigen versucht, dass cmu

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28 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

Linienzug der angegebenen Art, wenn man weit genug auf ihm fortgehe, die Grundlinie schneiden müsse; damit wäre nachgewiesen, dass die Annahme, das elfte Axiom gelte nicht, auf einen Widerspruch führt. Dass Gauss sich nach derselben Richtung hin versucht hat, wird durch eine Bemerkung be- zeugt, die sich auf der letzten Seite des Handbuches »Mathematische Brouillonsv findet (W. VIII, S. 163); allerdings beginnen die Aufzeichnungen des Hand- buches erst mit dem Oktober 1805.

In der Zeit zwischen 1799 und 1804 hatte Gauss aber noch auf einem anderen Wege vorzudringen versucht. Notizen aus dem Jahre 1803 (W. Xi, S. 451) geben mehrere Ansätze, mittels geometrischer Konstruktionen und daraus abgeleiteter Funktionalgleichungen, also durch dasselbe Verfahren, das Gauss auch bei dem Dreiecksinhalt angewandt hat (siehe S. 45), die zwischen den Stücken eines Dreiecks geltenden Beziehungen herzuleiten. Damals sind seine Anstrengungen vergeblich gewesen; vielleicht liegt hierin der Giaind, warum er gegenüber dem 1799 geäusserten Zweifel an der Wahrheit der Geo- metrie im .Tahre 1804 von der Hoffnung spricht, nach vor seinem Ende eine Durchfahrt nach dem Hafen des Beweises für das Parallelenaxiom zu finden.

Die Entdeckung der transzendenten Trigonometrie (1805 1817).

Schumacher ist im Wintersemester 1808/9 in Göttingen gewesen, um sich bei Gauss zum Astronomen auszubilden; während dieser Zeit hat er Auf- zeichnungen über seine Gespräche mit Gauss gemacht. Diese »Gaussianau bringen unter dem November 1808 die Bemerkung: »Gauss hat die Theorie der Parallellinien darauf zurückgebracht, dass wenn die angenommene Theorie nicht wahr wäre, es eine konstante, a priori der Länge nach gegebene Linie geben müsste, welches absurd ist. Doch hält er selbst diese Arbeit noch nicht für hinreichend« (W. VIII, S. 165). Hieraus geht hervor, dass Gauss auch im Jahre 1808 noch schwankte. »Auf die Worte: 'welches absurd ist' wollen wir dabei noch nicht einmal das geringste Gewicht legen, denn es ist höchst wahrscheinlich, dass Schumacher sie aus seinem Eigenen hinzugefügt hat, wohl aber legen wir Gewicht auf den nachfolgenden Satz. Wenn Gauss selber seine Untersuchungen noch nicht für abgeschlossen hielt, so muss er

DIE GRUNDLAGEN DER GEOMETRIE. 29

noch immer halb und halb an Euklid geglaubt haben: auf alle Fälle war er auch damals noch nicht vollständig von der Unbeweisbarkeit des Parallelen- axioms überzeugt!! ':.

Dass in der nichteuklidischen Geometrie, in der. ebenso wie in der Sphärik, die Ähnlichkeit von Figiu-en aufhört, eine a priori gegebene Einheit der Länge vorhanden ist. hatte schon 1766 Lambert erkannt (P. Th. S. 200), und Legendre hatte 1794 auf die angebliche Widersinnigkeit eines solchen absoluten Masses einen Beweis des Parallelenaxioms gegründet.

Auch eine Bemerkung von Gauss aus dem Jahre 1813 ist wohl in dem- selben Sinne aufzufassen: »In der Theorie der Parallellinien sind wir jetzt noch nicht weiter als Euklid war. Dies ist die partie honteuse der Mathe- matik, die früh oder spät eine ganz andere Gestalt bekommen muss« ^W. VIII, S. 166). Man wird dabei an den Ausspruch d'Alemberts vom .Jahre 1759 erinnert: »Die Erklärung und die Eigenschaften der geraden Linie sowie der parallelen Geraden sind die Klippe und sozusagen das Ärgernis (le scandale) der Elementargeometrie« ^).

Ein anderer Ton wkd in der Besprechung von zwei Beweisversuchen angeschlagen, die Gauss in den Göttinger Gelehrten Anzeigen vom 20. April 1816 veröflFentHcht hat (W. IV, S. 364, VIII, S. 170). Hier spricht er von dem »eitelen Bemühen, die Lücke, die man nicht ausfüllen kann, durch ein unhaltbares Gewebe von Scheinbeweisen zu verbergen«. Dass Gauss damit auf seine Überzeugung von der Unbeweisbarkeit des elften Axioms hindeuten wollte, wird durch den S. 8, 9 angeführten Brief an Schumacher vom 1 5. Januar 1827 bestätigt. Ein weiteres Zeugnis dafür, dass er jetzt zur Gewissheit durch- gedrungen war, ist der Brief an Gerling vom 1 1 . April 1816, also gerade aus der Zeit, in der er jene Besprechung verfasst hatte (W. VIII, S. 1681 Gauss äussert sich hier, auf Gerlings Wunsch, zu dem vorher erwähnten Beweis- versuch Legendres und sagt: »Es scheint etwas paradox, dass eine konstante Linie gleichsam a priori möglich sein könne; ich finde aber darin nichts Widersprechendes.. Es wäre sogar wünschenswert, dass die Geometrie Euklids

1! F. Engel, Lobatschefskijs Leben und Schrifteti, in dem Werke; N. I. Lohatschefskij . eirei geo- metrische Abhandlungen, herausgegeben von F. E.vgel, Leipzig 1S9S— ou, S. 380; im Folgenden angeführt mit Lob.

2) J. d'Alembert, Melanges de lüterature, d'histoire et de Philosophie, t. V., 4. dA. Amsterdam i ; 67, S. 2oo.

30 STÄrKET,, GAUSS ALS GEOMETER.

nicht wahr wäre, weil wir dann ein allgemeines Mass a priori hätten, z. B. könnte man als Raumeinheit die Seite desjenigen gleichseitigen Dreiecks annehmen, dessen Winkel = 59" 59' 59",99999«.

Gauss durfte sich mit solcher Entschiedenheit äussern, denn er war jetzt im Besitz der Trigonometrie, die in der nichteuklidischen Geometrie gilt. Wir wissen dies nicht aus Aufzeichnungen oder Briefen von Gauss, sondern durch einen glücklichen Zufall. Ebenfalls im April 1816 hatte Gauss den Besuch seines Schülers Wächter erhalten, der auf der Reise nach Danzig, wo er Professor am Gymnasium illustre geworden war, Göttingen berührte '). Wächter hatte kurz vorher in der Zeitschrift für Astronomie und verwandte Wissenschaften eine Besprechung derselben Parallelentheorie von Metternich veröffentlicht, mit der Gauss sich in den Göttinger Nachrichten vom 20. April 1816 beschäftigt hat, und so ist es erklärlich, dass die Unterhaltung sich auch den Grundlagen der Geometrie zuwandte. Hierauf bezieht sich ein Brief von Wächter an Gauss vom 12. Dezember 1816, in dem jener über Unter- suchungen berichtet, die er, angeregt durch das Gespräch, über die »anti- euklidische Geometrie« angestellt hatte (W. VIII, S. 17 5). Wir erfahren hieraus, dass Gauss ihm von seiner transzendenten Trigonometrie gesprochen hatte; Wächter hatte sich vergeblich bemüht, einen Eingang in diese zu finden. Man wird daher annehmen dürfen, dass Gauss damals, wie er in einem bald darauf, am 1 6. März 1819, an Gerling geschriebenen Briefe sagt, die nichteuklidische Geometrie »so weit ausgebildet hatte, dass er alle Auf- gaben vollständig lösen konnte, sobald die Konstante = C gegeben wird«

(w. vin, s. 182;.

Die jetzt gewonnene feste Stellung gibt sich kund in dem Briefe an Olbers vom 28. April 1817: »Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass die Notwendigkeit unserer Geometrie nicht bewiesen werden kann, wenig- stens nicht vom menschlichen Verstände noch für den menschlichen Ver stand. Vielleicht kommen wir in einem andern Leben zu andern Einsichten in das Wesen des Raums, die uns jetzt unerreichbar sind. Bis dahin müsste man die Geometrie nicht mit der Arithmetik, die rein a priori steht, sondern etwa mit der Mechanik in gleichen Rang setzen« (W. VIII, S. 177).

1) Vgl. hierfQr wie für die folgenden Angaben den Aufsatz von P. Stäckel: F. L. Wächter, Math. Ann:ilen, Bd. S4, lam, S. 4U fcs.

niE GRUNDLAGEN DER GEOMETRIE. 31

Auf welchem Wege Gauss zur nichteuklidischen Trigonometrie gelangt ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Im Nachlass tindet sich eine Her- leitung der Formeln, die wahrscheinlich im Jahre 1846 niedergeschrieben ist (W. VIII, S. 2 55 . In ihr wird das Verfahren der geometrischen Konstruk- tionen und daraus hergeleiteten Funktionalgleichungen angewandt, das Gauss, wie wir gesehen haben, schon im Jahre 1803, freilich ohne Erfolg, benutzt hatte, und es liegt daher nahe anzunehmen, dass er in der Zeit zwischen 1813 und 1816 aiuf diesem AVege vorgegangen ist ; allein man darf hierin nicht mehr als eine Vermutung erblicken.

B. Der Ausbau der nichteuklidischen Geometrie (seit 1817 .

7.

Die Zeit der Geodäsie und die Flächentheorie;

ScHwEiKART uud Taurinus (1817 1831).

Die Andeutungen über die Unbeweisbarkeit des Parallelenaxioms in der Anzeige vom Jahre 1816 hatten nicht den von Gauss erwarteten Erfolg ge- habt, und er hatte, das Geschrei der Böoter scheuend, sich entschlossen, bei Lebzeiten nichts über seine Ansichten bekannt zu machen. Um so mehr sehen wir ihn übeiTascht und erfr'eut, wenn er auf seinem einsamen Wege Gleichstrebende antrifft. Das ereignete sich mit Sch-\^-eikart und Taurinus.

Der Rechtsgelehrte Sc hweikart 1780—1859) hatte 1807 eine Schrift zur Parallelentheorie veröffentlicht', in der er beanstandete, dass man bei der üblichen Erklänmg der Parallelen als einander nicht schneidender Geraden das Unendliche hereinziehe, und forderte, man solle beim Aufbau der Geometrie von der Existenz der Quadrate ausgehen"). Später, zwischen 1S12 und 1816, hatte er »ohne Hilfe des elften EuKLinischen Axioms eine Geometrie, die er Astralgeometrie nannte, entwickelt« Brief von Gerling an W. Bolyai vom 31. Oktober 1854, P. Th. S. 243 und, nachdem er 1816 aus Charkow an die

1) F. C. ScHWEiKART, Die Theorie der Parallellinien, nebst dem Vorschlage ihrer Verbannung aus der Geometrie, Jena \ind Leipzig 1807. Vgl. P. Th. S. 24;! 24C.

2) In ähnlicher Weise war ClairaüT, Elements de Geometrie, Paris 1741, davon ausgegangen, dass das Vorhandensein von Rechtecken durch die Anschauung gegeben sei, und hatte daraus mit grosser Klar- heit die Sätze des ersten Buches der EuKLIDiachen Element abgeleitet.

32 STÄCKEL, GAUSS AI^ GEOMETER.

Universität Marburg berufen worden war, 1818 mit seinem Kollegen Gerling darüber gesprochen. »Ich erzählte ihm darauf, wie Sie vor einigen Jahren [1816] öffentlich geäussert hätten, dass man seit Eukuds Zeiten im Grunde hiermit nicht weiter gekommen sei: ja dass Sie gegen mich mehrmals ge- äussert hätten, wie Sie diu-ch vielfältige Beschäftigung mit diesem Gegenstand auch nicht zum Beweis von der Absurdität einer solchen Annahme [einer nichteuklidischen Geometrie^ gekommen seien« Brief von Gerling an Gauss vom 25. Januar 1S19, W. VIII, S. 180). Schweikart bat darauf Gerling, er möge eine kurze Aufzeichnung über seine »Astralische Grössenlehre« (W. VIII, S. 1 SO; an Gauss weitergeben und diesen ersuchen, ihn gelegentlich sein Ur- teil wissen zu lassen. In seiner Antwort erklärt Gauss, es sei ihm fast alles aus der Seele geschrieben Brief vom 16. März 1819, W. VIII, S. IST. Er fand hier die Auffassung wieder, die er in dem Brief an Olbers vom 28. April 1817 ausgesprochen hatte, und die er in dem Brief an Bessel vom 9. April 1830 (W. VIII, S. 201' noch stärker betont hat, dass der Raum eine ausser- halb von uns vorhandene Wirklichkeit sei, der wir ihre Gesetze nicht voll- ständig vorschreiben können, deren Eigenschaften vielmehr niu" auf Grund der Erfahrung vollständig festzustellen sind').

Das von Schweikart gewählte Beiwort »astralisch« sollte ausdrücken, dass erst bei Abmessungen der Grössen, wie sie in der Stemenwelt vorkommen, Abweichungen von der EuKUoischen Geometrie beobachtet werden könnten. Es scheint Gauss gefallen zu haben, denn er hat es in späteren Aufzeichnungen angewendet W. VIII, S. 232).

Ein Neffe von Schweikart, ebenfalls ein Rechtsgelehrter. Taurinus (1794 bis 1874 hatte sich als junger Mann, angeregt durch die Schrift seines Onkels, mit der Parallelentheorie beschäftigt und im Oktober 1824 einen Beweis- versuch an Gauss gesandt*); dass dieser sich mit den Grundlagen der Geo- metrie beschäftige, wusste er seit 1821 durch seinen Onkel. Gauss, der in Taurinus »einen denkenden mathematischen Kopf« erkannt hatte, antwortete in einem längeren Schreiben vom 8. November 1824; er hat darin seine An- sichten über das ParaUelenaxiom ausführlich dargelegt, aber zugleich dem

i; Vgl. auch die gegen Kaxt gerichteten Bemerkungen W. II, S. 177 und W. VIII, S. 224. i] Für die folgende Darstellung vgl. P. Th. S. 246 252 und den Aufsatz von P. Stäckel : F. A. Taurinui, .A.bhandlungen der Geschichte der Mathematik, Heft u, Leipzig 1899, S. 397.

DIE GUUKDI.AGEN DER GEOMETRIE. 33

Empfänger des Briefes znv Pflicht gemacht, von dieser »Privat-Mitteihmg auf keine Weise einen ötfentlicheu oder zur öffentlichkeit füliren könnenden Ge- brauch zu machen« (W. VIII, S. 186 188).

Es muss hier genügen, aus dem Briefe die Hauptstellen anzuführen. »Die Annahme, dass die Summe der drei Winkel [des Dreiecks] kleiner sei als 18ü", führt au.f eine eigene, von der unsrigen euklidischen: ganz verschiedene Geometrie, die in sich selbst dui-chaus konsequent ist und die ich für mich selbst ganz befiiedigend ausgebildet habe, so dass ich jede Aufgabe in der- selben auflösen kann mit Ausnahme der Bestimmung einer Konstante, die sich a priori nicht ausmitteln lässt. Je gTösser man diese Konstante annimmt, desto mehr nähert man sich der euklidischen Geometrie und ein unendlich gTosser Wert macht beide zusammenfallen. . . . Wäre die nichteuklidische Geometrie die wahre, und jene Konstante in einigem Verhältnisse zu solchen Grössen, die im Bereich unserer Messungen auf der Erde oder am Himmel liegen, so liesse sie sich a posteriori ausmitteln«.

Die freundliche Antwort, die der erste Mathematiker der Zeit ihm zu- kommen Hess, hat Taurinüs gewiss angespornt, seine Untersuchungen mit er- höhtem Eifer fortzusetzen. In seiner 1825 veröfl'entlichten Theorie der Parallel- Unien ist er zwar von der unbedingten Giltigkeit des Parallelenaxioms über- zeugt, aber er beginnt die Folgen zu entwickeln, die sich aus dessen Verwerfung ergeben, und gelangt so seinerseits zu jener Konstanten, die einer , nichteuklidi- schen Geometrie eigen sein müsste; in der gleichzeitigen Möglichkeit unendlich vieler solcher Geometrien, die jede füi' sich genommen widerspruchslos sind, sieht er jedoch einen ausreichenden Grund, sie alle abzuweisen.

Gauss, dem die Schrift zugesandt wui'de, hat sich eben so wenig dazu geäussert wie zu einer zweiten, den 1826 veröffentlichten Geometriae prima elementa^\ Hier ist Taurinüs auf die «neue Geometrie« genauer eingegangen und hat die Formeln der zugehörigen Trigonometrie sozusagen mit einem Schlage gewonnen, indem er in den entsprechenden Formeln der sphärischen Trigonometrie deii Halbmesser der Kugel imaginär setzte. Aber noch mehr, er hat diese Formeln sogleich zur Lösung einer Reihe von Aufgaben auge-

1) Dies geht aus dem Briefe von Tal'RINLS an Gavss vom Im. Dezember 1S29 hervor Brief im Gavss- Archivj. Vermutlich hatte Gauss daran Anstoss genommen, dass er von TaueikX's in der Vorrede zur Theorie der Parallellinien [S. XIII und in der Vorrede der Elementa (S. V VI; erwähnt worden war. X 2 Abh. 4. 5

34 STÄf'KEL, GAUSS ALS GEOMETER.

wandt und zum Beispiel den Umfang und den Inhalt dos Kreises, die Ober- tiäche und das Volumen der Kugel richtig berechnet.

Die Gedanken von Taurinus sind unbcaclitet geblieben. »Der Erfolg bewies mir», schreibt er am '29. Dezember 1829 an Gauss, »dass Ihre Auto- rität dazu gehört, ihnen Anerkennung zu verschaffen, und dieser erste schrift- stellerische Versuch ist, anstatt, wie ich gehofft hatte, mich zu empfehlen, für mich eine reiche Quelle von Unzufriedenheit geworden« (Brief im GAUSS-Archiv).

Im fünften Abschnitt dieses Aufsatzes wird ausführlich über die Unter- suchungen berichtet werden, die Gauss in der Zeit von 1816 bis 1827 über die allgemeine Lehre von den krummen Flächen angestellt hat. Erst dort soll auf die Zusammenhänge mit den Grundlagen der Geometrie eingegangen und im Besonderen die Frage erörtert werden, ob Gauss die Beziehung zwi- schen der absoluten Geometrie und der Geometrie auf den Flächen konstanten Krümmungsmasses gekannt hat. Auch die Ansichten von Gauss über mehr- dimensionale M'annigfaltigkeiten werden dann zur Sprache kommen.

Bald nach der Vollendung der Disquisitiones generales circa superficies curvas (Oktober 1827), die, wie Gauss am 11. Dezember 1825 an Hansen schrieb, »tief in vieles Andere, ich möchte sogar sagen, in die Metaphysik der Raum- lehre eingreifen« 'Brief im Gauss- Archiv), hat sich Gauss erneut den Grund- lagen der Geometrie zugewandt. Am 27. Januar 1829 berichtet er an Besset, : »Auch über ein anderes Thema, das bei mir fast schon 40 Jahr alt ist, habe ich zuweilen in einzelnen freien Stunden wieder nachgedacht, ich meine die ersten Gründe der Geometrie. . . . Inzwischen werde ich wohl noch lange nicht dazu kommen, meine sehr ausgedehnten Untersuchungen darüber zur öffentlichen Bekanntmachung auszuarbeiten, und vielleicht wird dies auch bei meinen Lebzeiten nie geschehen, da ich das Geschrei der Böoter scheue, wenn ich meine Ansicht ganz aussprechen wollte« (W. VIII, S. 200).

Von den Untersuchungen, auf die Gauss hindeutet, ist uns nur eine kurze Notiz vom November 1S28 erhalten, in der unabhängig vom elften Axiom bewiesen wird, dass die Winkelsumme des Dreiecks nicht grösser sein kann, als zwei Rechte W. VIII, S. 190 '. Aber im April 1831 hat er begonnen, einiges von seinen Meditationen aufzuschreiben. »Ich wünschte doch, dass es

1) Dasselbe Verfahren hatte schon Legkndrk in der zweiten .\uflage der Elementn de (f^omHrie 'I7'i8l ungewandt.

DIE GRl'NDT.AGEN DER GEOMETKIE. 35

nicht mit mir unterginge« 'Brief an Schumacher vom 17. Mai 1831, W. VIII, S. -213.

Als diese Niederschriften darf man drei Zettel ansprechen, die aus dem Nachlass W. YIII, S. 202 209 abgedruckt sind. In der Notiz 3 , die wohl die fiiiheste ist. und von der |l ' und \2] nur genauere Ausführungen sind',, werden die grundlegenden Eigenschaften der parallelen oder, nach Johann Bolyäi, asymptotischen Geraden hergeleitet, und in der letzten Nummer ge- langt Gauss zu dem Parazykel, der Kurve, in die der Kreis übergeht, wenn der Halbmesser unendlich wird. Er nennt sie Trope, also Wendekreis ^cercle tropique , ein deutliches Zeichen, dass er den Parazykel als den Übergang von den eigentlichen Kreisen zu den Hyperzykeln aufgefasst hat. Der Gang der Entwicklung hat grosse Ähnlichkeit mit dem von Johann Bolyai in der Scientia spatii.

Ein Ersatz für weitere Aufzeichnungen, freilich ein spärlicher, ist der Brief an Schumacher vom 12. Juli 1831, in dem Gauss die Folgen bespricht, die das Aufhören der Ähnlichkeit in der nichteuklidischen Geometrie nach sich zieht, und die dort geltende Formel für den Umfang des Kreises angibt (W. VIII, S. 215'. Es ist leider nur wenig, was wir- von jenen sehr ausge- dehnten Untersuchungen wissen, und auch aus den folgenden Jahren wird nur wenig hinzukommen.

Die weitere Entwicklung bei Gauss'; Johann Bolyai und Lobatschefskij (1831 1846).

Am 3. November 1823 hatte .Johann Bolyai aus Temesvar, wo er als Pionierleutnant stand, seinem Vater mitgeteilt, er habe »aus Nichts eine neue, andere Welt geschaffen«. Im Febniar 1825 konnte er ihm den ersten Ent- wurf seiner absoluten Kaumlehre vorlegen. Wolfgang war jedoch damit nicht einverstanden; besonders nahm er Anstoss an dem Auftreten der an sich un- bestimmten Koristanten und der dadurch bedingten Vielheit der möglichen hypothetischen Systeme (Bol. S. 87). Vater und Sohn konnten sich nicht

1) Nach einer brieflichen Mitteilung von H. S. Carslaw (Sydney) ist in Nr. 4 der Notiz [i] der Fall übersehen, dass die Geraden cb und i einander nicht schneiden: diese Lücke ist in der Noti?, [l], Nr. 4, Fall II ausgefüllt.

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36 STÄCKEI.. GAUSS A1,S GKOMETF.R.

einigen, und schliesslich kam man überein, Johann möge das Wesen der Sache in lateinischer Sprache darstellen, die kleine Abliandlung solle dem von Wolf- gang geplanten Tentamen ') beigegeben und einer der herzustellenden Abzüge an Gauss gesandt werden: seinem Urteil über Wert oder Unwert wollten sich beide unterwerfen.

Im Juni IS:!I wurden die Sonderabzüge des Appendix sdentiam spatii ab- solute verum exhibeiis fertig, und am 20. Juni wurde einer davon an Gauss abgesandt. Jedoch gelangte »der fatalen Choleraumstände wegen« nur der gleichzeitig abgegangene Brief an Gauss in dessen Hände, an dessen Schluss AA'oLFGANG, wie er an Johann schrieb, »eine kleine, klare Idee der Arbeit gab, damit er nicht im voraus sich grause vor der Materie«. Der Sonderabzug selbst kam nach längerer Zeit an Wolfgang zurück und ist Anfang Februar 1832 durch einen Bekannten der Bolyais, den in Göttingen studierenden Baron v. Zevk, Gauss übergeben worden (Bol. S. 91 92).

Unter dem ersten Eindruck, den die Schrift auf ihn machte, schrieb Gauss am 14. Februar IS'.M an Gerling: »Noch bemerke ich, dass ich dieser Tage eine kleine Schrift aus Ungarn über die nichteuklidische Geometrie erhalten habe, worin ich alle meine eigenen Ideen und Resultate wiederfinde, mit grosser Eleganz entwickelt, obwohl in einer für jemand, dem die Sache fremd ist, wegen der Konzentrierung etwas schwer zu folgenden Form. Der Verfasser ist ein sehr junger österreichischer Offizier, Sohn eines Jugend- freundes von mir, mit dem ich 1798 mich oft über die Sache unterhalten liatte, wiewohl damals meine Ideen noch viel weiter von der Ausbildung und Reife entfernt waren, die sie durch das eigene Nachdenken dieses jungen Mannes erhalten haben. Ich halte diesen jungen Geometer v. Bolyai für ein Genie erster Grösse« fW. VIII, S. 220).

Am (j. März folgte der wiederholt angeführte Brief an Wolfgang, in dem (JAUss seine Überraschung über das Zusammentreffen mit Johann ausdrückt und bittet, diesen herzlich von ihm zu grüssen und ihm seine besondere Hoch- achtung zu versichern (W. VIII, S 220 224). »GAUSsens Antwort hinsichtlich Deines Werkes«, schrieb Wolfgang an den Sohn, »ist sehr schön und gereicht unserem Vaterlande und unserer Nation zur Ehre. Ein guter Freund sagt.

1) W. Bolyai, Tenlamcn iuventutem sludiosam in elcMctUa malhcseos . . . iiilrodaccndi, t. i, Maros Vfisärhely I8;r2, ed. secundii, BuUayjcat i*<m7.

DIE GRUNDLAGEN DER GEOMETRIE. 37

es wäre eine grosse Satisfaktion« (Bol. S. 72). Johann selbst hat es als eine grosse Enttäuschung und Kränkung empfunden, dass Gauss den Appendix keiner öffentlichen Anerkennung würdigte und das Vorrecht der ersten Ent- deckung für sich in Anspruch nahm (Bol. S. 95 97).

Wie schon erwähnt wurde, gibt Gauss in dem Briefe als Probe ihm eigentümlicher Untersuchungen einen einfachen Beweis für den Satz, dass in der nichteuklidischen Geometrie der Inhalt des Dreiecks der Abweichung der Winkelsumme von zwei Rechten proportional ist; der Umstand, dass damals die Erinnerungen an den Verkehr mit Wolfgang in ihm wiederauftauchten, macht es wahrscheinlich, dass er dabei an seine Untersuchungen vom Sep- tember 1799 angeknüpft hatte. Er schliesst daran die Aufforderung, Johann möge sich mit der entsprechenden Aufgabe für den Raum beschäftigen, näm- lich »den Kubikinhalt des Tetraeders (von vier Ebenen begrenzten Raumes) zu bestimmen». Johann hatte, wie sein Vater am 20. April 1835 an Gauss schreibt (Br. G.-Bolyai, S. 115), die Auflösung der Aufgabe bereits ein Jahr vor der Herausgabe des Appendix gefunden. Der Nachlass Johanns enthält in der Tat sogar mehrere Verfahren, die zur Lösung dienen können (Bol. S. 109 118), darunter auch genau die Methode, die Gauss im Auge hatte und die er, seiner oben (S. 17, 18) erwähnten Gewohnheit gemäss, bei der Absendung des Briefes an Wolfgang vom 6. März 1832 in einem seiner Hand- bücher angedeutet hat (W. VIII, S. 228).

Auf das Volumen des Tetraeders bezieht sich noch eine zweite Auf- zeichnung von Gauss, die etwa aus dem Jahre 1841 stammt. Sie steht auf einem Zettel, der sich in dem Sonderabdruck der Abhandlung Lobatschefskms vom Jahre 1836 über die Anwendung der imaginären Geometrie auf einige Integrale gefunden hat; unter imaginärer Geometrie versteht der russische Mathematiker die nichteuklidische Geometrie.

LoBATscHEFSKu (1793 1856) hatte in den Vorlesungen über Geometrie, die er 18i5/J6 an der Universität Kasan hielt, noch ganz auf dem Boden der euklidischen Geometrie gestanden und darin verschiedene Versuche zum Be- weise des Parallelenaxioms gemacht (Lob. S. 262, 378). Verraten schon diese Vorlesungen eine eingehende Beschäftigung mit Legendres Elementen der Geo- metrie (Lob. S. 454), so lassen die späteren Schriften Lobatschefsklis erkennen, dass er sich in den folgenden Jahren in tief eindringender Kritik mit Legen dre

38 STÄCHET,, GAUSS AI.S GEOMETER.

auseinandergesetzt und, indem er es wagte. Folgerungen aus der Annahme des Nichtbestehens des Parallelenaxioms zu ziehen, sich allmählich mit dem Gedanken von dessen Unbeweisbarkeit vertraut gemacht hat. Diesen Standpunkt vertritt er in einem ungedruckt gebliebenen Lehrbuch der Geometrie vom Jahre 1823 (Lob. S. 369). In den folgenden Jahren gelangte er zu der Er- kenntnis, dass es eine in sich widerspruchsfreie Geometrie gibt, die des Paral- lelenaxioms nicht bedarf. Er entwickelte diese Geometrie soweit, dass er alle ihre Aufgaben rein analytisch behandeln konnte; auch gab er allgemeine Regeln zur Berechnimg der Bogenlängen, Flächenräume und Rauminhalte Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden am 1 2 . Februar 1 S 2 6 der Ka- saner Gelehrten Gesellschaft vorgelegt: veröffentlicht sind sie jedoch erst 1829 und 1830 im Kasauer Boten (Lob. S. 371). Ihnen folgte eine Reihe weiterer, in russischer Sprache geschriebener Abhandlungen (1835 1838).

Um seinen Gedanken Verbreitung im westlichen Europa zu verschaffen, liattc LoBATscHEFSKi.1 1837 in Grelles Journal eine kurze Darstellung seiner imaginären Geometrie gegeben, die freilich zur Einführung in den Gegenstand wenig geeignet war. Gauss scheint sie nicht beachtet zu haben, er ist viel- mehr wohl erst im Jahre JS40 auf Lobatschefskij aufmerksam geworden, als dessen vortrefflich geschriebene deutsche Schrift: Geometrische Untersuchungev zur Theorie der ParalleUinien, in Gersdorfs Repertorium abfällig besprochen wurde (Brief an Encke vom 1. Febr. 1841, W. VIII, S. 232). Durch einen merkwürdigen Zufall erhielt er um dieselbe Zeit durch den mit Lobatschefsku befreundeten Physiker der Kasaner Universität Knorr, der ihn 1840 in Göt- tingen besucht hatte, die schon erwähnte Abhandlung vom Jahre 1836. Später hat ihm der Astronom W. Struve in Pulkowa die anderen, in den Kasaner Gelehrten Schriften erschienenen Abhandlungen verschafft (W. VIII, S. 239); woher Gauss die Abhandlung im Kasaner Boten vom Jahre 1829/30 bekommen hat. ist unaufgeklärt (Lob. S. 435).

Ein weiterer glücklicher Umstand war es, dass (jauss die in russischer Sprache geschriebenen Schriften lesen konnte. »Die Aneignung irgend einer neuen Fertigkeit als eine Art Verjüngung betrachtend" (Ihief an Schumacher vom 17. August 1839, Br. G.-Sch. III, S. 242) hatte er, nachdem er dem Sanskrit keinen Geschmack abgewinnen konnte, im Frühjahr 1839 angefangen, die russisclie Sprache zu erlernen. »Es dauerte kaum zwei .Jahre, dass er ohne

DIE GRUNDLAGEN DER GEOMETRIE. 39

alle fremde Hilfe dieselbe so vollständig in seine Gewalt bekam, dass er nicht nur alle Bücher in Prosa und Poesie mit Geläufigkeit lesen konnte, sondern dass er sogar seine Korrespondenzen nach St. Petersburg mitunter in russi- scher Sprache besorgte« (Sartorius, S. 91).

Über die russischen Abhandlungen urteilt Gauss in dem Brief an Ger- LiNG vom 8. Februar 1844, dass sie »mehr einem verworrenen Walde gleichen, durch den es, ohne alle Bäume erst einzeln kennen gelernt zu haben, schwer ist, einen Dui'chgang und Übersicht zu finden« (W. VIII, S. 237). Dagegen lobt er die Konzinnität und Präzision der Geometrischen Untersuchungen und wiederholt dieses Lob in dem Brief an Schumacher vom 28. November 1846: »Materiell für mich Neues habe ich .... nicht gefunden, aber die Ent- wicklung ist auf anderm Wege gemacht, als ich selbst eingeschlagen habe, und zwar von Lobatschefsklt auf eine meisterhafte Art in echt geometrischem Geiste. Ich glaube Sie auf das Buch aufmerksam machen zu müssen, welches Ihnen gewiss ganz exquisiten Genuss gewähren wird« (W. VIII, S. 238).

Auf einem Zettel, der sich in einem der beiden Gauss gehörenden Ab- drücke der Geometrischen Untersuchungen vorgefunden hat, ist in gedrängter Darstellung die bereits erwähnte (S. 31) Herleitung der Formeln der nicht- euklidischen Trigonometrie enthalten (W. VIII, S. 255 257); vermutlich ist sie verfasst worden, als Gauss im Jahre 1846 »Veranlassung hatte, das Werk- chen wieder durchzusehen« (W. VIII, S. 238). Wenn dort (S. 31) bemerkt wurde, dass die Aufzeichnung wohl den Gedankengang wiedergebe, den Gauss im Jahre I S 1 6 eingeschlagen hat, so muss hier hervorgehoben werden, dass darin auch eine Auffassung zu Tage tritt, die Gauss erst später gewonnen hat. Als Endergebnis werden nämlich Formeln erhalten, die mit den Gleichungen der sphärischen Trigonometrie, bezogen auf eine Kugel vom Halbmesser l/A-, identisch sind; die entsprechenden Gleichungen der nichteuklidischen Trigono- metrie folgen daraus, wenn der Konstanten k ein rein imaginärer Wert erteilt wird. Dass diese Beziehung stattfindet, hatte Lobatschefskij am Schluss der geometrischen Untersuchungen (S. 60) angemerkt. Sie erscheint bei ihm als ein sonderbarer Zufall. Hat Gauss tiefer geschaut"? Hat er durch den Buch- staben k andeuten wollen, dass die beiden Geometrien dem allgemeineren Begriff der Geometrie einer Mannigfaltigkeit konstanten Krümmungsmasses untergeordnet werden können? Wie im fünften Abschnitt dieses Aufsatzes

40 STXcKEL, GAUSS ALS ÜEOMETER.

dargelegt werden wird, spricht vieles dafür, die Frage zu bejahen. Dann aber würde ein Licht fallen auf eine dunkle Stelle in dem vorher angeführten Brief an Schumacher vom 28. November 1846: »Sie wissen, dass ich schon seit 54 Jahren (seit 1792) dieselbe Überzeugung habe (mit einer gewissen spätem Er- weiterung, deren ich hier nicht erwähnen will)« (W. VIII, S. 2;) 8). Darf man noch weiter gehen? Hat Gauss seine ui'sprüngliche Überzeugung später daliin erweitert, dass er den Geometrien, die sich je nach dem Vorzeichen des Krümmungsmasses ergeben, volle Gleichberechtigung zubilligte, hat er den Gedanken Riemanns vorausgenommen, man brauche den Raum nur als unbe- gi'enzte, nicht als unendliche Mannigfaltigkeit aufzufassen"? Die vorliegenden Anhaltspunkte gestatten es nur, Vermutungen auszusprechen.

Als Johann Bolyai am 3. November 1823 dem Vater von seinen neuen Entdeckungen berichtet hatte (Bol. S. 85), ermahnte ihn dieser, sich mit der Bekanntmachung zu beeilen, weil »manche Dinge gleichsam eine Epoche haben, wo sie dann an mehreren Orten aufgefunden werden, gleichwie im Frühjahr die Veilchen mehrwärts ans Licht kommen« (Bol. S. 86V Die Namen Gauss, ScHWEiKART. Taurinus, Lobatschefski.i siud ein Beweis dafür, wie richtig Wolf- gang geurteilt hatte.

Man liat allerdings dieses Zusammentreffen dadurch seiner Merkwürdig- keit zu entkleiden versucht, dass man vermutete, Bolyai und Lobatschefskij verdankten Gauss, der ohne Zweifel als Erster sich von den Fesseln der Über- lieferung frei gemacht hat, die Fragestellung ihrer Untersuchungen (Lob. S. 428, 442). Dass ScHWEiKART von Gauss unabhängig gewesen ist, unterliegt keinem Zweifel; dagegen sind bei Taurinus Anregungen durch Schweikart und Gauss wirksam gewesen, ohne dass ihm damit die Selbständigkeit in der Entdeckung der nichteuklidischen Trigonometrie abgesprochen werden darf.

Nachdem die hinterlassenen Scliriften von Gauss und den beiden Bolyai zugänglich geworden sind, können die Beziehungen zwischen ihnen als völlig geklärt gelten; man beachte vor allem die beiden Tatsachen, dass Wolfgang, als Gauss im Herbst 1798 Göttingen verlassen hatte, das Parallelenaxiom zu beweisen bemüht war, und dass. wie die S. 48 wiedergegebenc Stelle aus einem Briefe Wolfgangs beweist, Johann erst, nachdem er seine Untersuchungen bereits begonnen hatte, von seinem Vater die Mitteilung erliielt, Gauss habe

DIE ORUNDLAGEN DER GEOMETRIE. 41

fruchtlos Über die Parallelen nachgedacht, eine Warnung eher, denn eine Anregung.

Bei LoBATScHEFSKiJ hat man an eine Vermittlung durch Bartels (1769 1836) gedacht, der ISO 7 bis 1821 an der Universität Kasan gelehrt hat. Bartels ist nämlich Hilfslehrer au der Schule gewesen, an der Gauss seinen ersten Unterricht empting und hat sich des Knaben hilfreich angenommen: später, 1S05 bis 1S07, wo er als ein Schützling des Herzogs, wie Gauss, in Braunschweig lebte, hat er mit diesem freundschaftlich verkehrt. Wenn aber schon die ganze Entwicklung der Gedanken, wie sie vorher dargestellt worden ist, ftii' die volle Selbständigkeit Lobatschefskijs spricht, so kommt noch dazu, dass Bartels, nach dem Zeugnis seines Schwiegersohnes O. Struve, in der imaginären Geometrie mehr eine geistreiche Spekulation als ein die Wissen- schaft förderndes Werk gesehen hat; auch erinnert sich Struve nicht, dass Bartels jemals von anklingenden Ideen bei Gauss gesprochen habe Lob. S. 378 382).

9.

NachAvirkung der GAUSsschen Gedanken.

Bei der Zurückhaltung, die sich Gauss ziu" Kegel gemacht hatte, haben während seines Lebens nur wenige Bevorzugte etwas von seinen Ansichten über die Grundlagen der Geometrie erfahren, und die Eingeweihten haben ihr Wissen für sich behalten. Zum Beispiel hat Dirichlet. mit dem Gauss bei dessen Besuch im März 182 7 von der nichteuklidischen Geometrie ge- sprochen hatte W. Vni, S. 18S\ untersucht, wie sich die Poteutialtheorie im nichteuklidischen Räume gestalte, aber nichts darüber veröffentlicht Lob. S. 44 V. In weiteren Kreisen wurde erst etwas davon bekannt, als Sartorius IS 56 in seiner Schrift Gau6s zum Gedächtniss berichtete. Gauss habe eine selbständige Geometrie ausgebildet, die gelte, wenn man das Parallelenaxiom nicht zugebe (W. VIII. S. 267 268). Diese Andeutung wui'de bald darauf bestätigt durch den 1860 herausgekommeneu zweiten Band des Briefwechsels zwischen Gauss und Schumacher (Briefe vom Jahre 1S31, W. VIII, S. 210 210), und 1865 erschien der fünfte Band mit dem Briefe vom 28. November 1846 (W. VIII. S. 238), durch den die Aufmerksamkeit airf Lobatschefsku gelenkt wurde. Nachdem jetzt, um mit Hoi'EL zu reden, die imposante Autorität Gausscus

X 2 Abh. 4. 6

42 STÄCKEL, GAUSS AT.S GEOilETER.

gesprochen hatte, fand der Hinweis auf J. Bolyai und Lobatschefsklt Be- iiclituni;, den Baltzer 1867 in der zweiten Auflage seiner Elemente der Mathematik gab; durch ihn angeregt veröffentlichte Hoüei, französische Über- setzungen der Geometrischen TJntersudmngen und der Scientia spatü absolute vera und machte so diese verschollenen Schriften allgemein zugänglich. Damit war der Boden vorbereitet für eine verständnisvolle Aufnahme der zu der- selben Zeit aus Kiemanns Nachlass herausgegebenen Habilitationsrede vom Jahre 1854: Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liet/en; dazu kamen 1868 die Aufsätze von Helmholtz. Während man bis dahin die Beschäftigung mit dem elften Axiom als ein Vorrecht unklarer Köpfe ange- selien imd mit den Bemühungen um die Quacbatiu" des Kreises und das Per- l)etuum mobile auf eine Stufe gestellt hatte, erregten jetzt die Untersuchungen über die Grundlagen der Geometrie allgemeine Teilnahme, und als später noch die Kritik der Arithmetik hinzukam, entstand ein neuer Zweig der Mathematik, der als Axiomatik bezeichnet wird.

C. Sonstige Beiträge zur Axiomatik.

10.

Weitere Untersuchungen über die Grundlagen der Geometrie. Wenn von den Untersuchungen die Rede ist, die Gauss über die Grund- lagen der Geometrie angestellt hat, so denkt man dabei vor allem an die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie. Gauss hat sich jedoch keines- wegs auf das l'arallelenaxiom beschränkt, er hat sich vielmehr noch mit einer Reihe anderer Fragen beschäftigt, die man heute ebenfalls der Axiomatik zu- weisen würde. Hierüber soll zum Schluss dieses Abschnittes berichtet werden. Es kann nicht Wunder nehmen, dass die üblichen Darstellungen der euklidischen Geometrie einen Mann, der an die Schärfe der Begriffsbestimmungen und die Strenge der Ableitungen hohe Forderungen stellte, in mehr als einem Punkte nicht befiiedigten. Sein tiefdringender Blick erkannte hier Lücken, die zum Teil erst nach Jahrzehnten von anderen Geometern aufgedeckt worden sind. Zum Beispiel spricht Gauss in dem Brief an Bolyai vom G. März 1832 von dem »Teil des Planums, der zwischen drei Geraden liegt« und macht dazu die Anmerkung: »Bei einer vollständigen Durchführung müssen solche Worte

DIE GRUNDLAGEN DER GEOMETRIE. 43

wie zwischen auch erst auf klare Begriffe gebracht werden, was sehr gut angeht, was ich aber nirgends geleistet finde« (W. VIII, S. 222^

Die Erklärung der geraden Linie war Gegenstand des Gespräches ge- wesen, das Gauss und Wolfgang Bolyai bei ihrem ersten gemeinsamen Spaziergange im Herbst J796 geführt hatten. Wie .Iohann Bolyai erzählt, erwiderte Gauss auf die Äusserungen Wolfgangs: »Ja wahrlich, die Gerade Avird schändlich behandelt: sie ist in der Tat die Linie, welche sich in sich selbst dreht« ,Bol. S. 197;. Dieselbe Erklärung hat Gauss in einer Vorlesung über praktische Astronomie gegeben, die Lübsen im Jahre 1830 bei ihm ge- hört hat (W. VIII, S. 196); auch die weitere Bemerkung bei Lübsen, das angegebene Merkmal sei praktisch wichtig, z. B. bei der Justierung eines Ferni'ohres, bei der richtigen Bohrung eines Zylinders usw., ist wohl Gauss- schen Ursprungs.

Im Tagebuch steht unter dem 28. Juli 179S die Eintragung: »Plani possi- bilitatem demonstravi« (T. Nr. 72). Was Gauss hiermit ineiute, zeigt eine Stelle in dem Briefe an Bessel vom 2 7. Januar 1829, die Erklärung der Ebene als einer Fläche, in der die irgend zwei Punkte verbindende gerade Linie ganz liegt, enthalte mehr, als ziu* Bestimmung der Fläche nötig ist, und invol- viere tacite ein Theorem, das erst bewiesen werden müsse (W. VIII, S. 200); in ähnlicher Weise äussert sich Gauss auch in einer wohl aus der gleichen Zeit stammenden Aufzeichnung (W. VIII, S. 194). Auch in dem Brief an W. Bolyai vom 6. März 1832 erklärt es Gauss für unerlässlich, »die Möglich- keit eines Planums zu erweisen« (W. VIII, S. 224). Ein solcher Beweis steht im Handbuch 19 Be, S. 153 (W. VIII, S. 194); durch die unmittelbar vorher- gehenden Notizen, die den Dreiecks-Inhalt und das Tetraeder- Volumen in der nichteuklidischen Geometrie betreffen (W. VIII, S. 226 228), ist als Zeit der Niederschrift der Mäi-z 1832 gesichert. Die Ebene denkt sich Gauss erzeugt durch die Drehung des einen Schenkels eines rechten Winkels um den anderen, festgehaltenen Schenkel. Auf Anregungen von Gauss gehen wohl auch die Abhandlungen von Deahna (1837) und Gerling (1840) über die Erldänmg der Ebene zurück^).

1) Deahna, Demonstratio thcorcmatis esse superficiem planam, Marburg is:i7; Cur. L. Gerling, Fragment über die Begründung des Begriffs der Ebene, Grelles Journal, Bd. 20, 1840, S. 3Si. Baltzer bemerkt in der zweiten AuHage seiner Elemente, Bd. II, 1867, § 4, Gauss sei der Meinung gewesen, Deahnas

6*

44 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

Bei der lichre von den Vielecken pflegt man stillschweigend oder aus- drücklich voraussetzen, dass der Umfang sich selbst nicht schneidet. Gauss hat schon früh die Frage, ins Auge gefasst, was man unter dem Inhalt eines beliebigen A'ielecks zu verstehen habe: in Nr. 24 dieses Aufsatzes wird man hierüber Genaueres finden. Bei seinen Untersuchungen über die allgemeine Lehre von den krummen Flächen ist er auf den Gegenstand zurückgekommen und hat beliebige Figuren betrachtet, deren Umfang sich selbst schneidet (Brief an Olbers vom 20. Oktober 1825, Br. G.-O. 2, S. 431, W. VIII, S. 399: vgl. auch W. I\, 8. 227). Auch die Zerlegung der Vielecke in Dreiecke hat er untersucht (W. VIII, S. 280); sein Verfahren führt zu einer Heiieitung der ^\'inkclsumme des H-Ecks. die dem üblichen, unzulänglichen Induktionsbeweise vorzuziehen ist.

Eine Anfrage Gerlings vom 20. Juni 1846, über die Unterscheidung rechts- und linksgewundener Schrauben {W. VIII, S. 247} veranlasste Gauss zu Aus- führungen über die Begriffe rechts und links, die er »ein Kernstück eines viel ausgedehntem Systems- nennt iBrief vom 23. Juni 1S46, W. VIII, S. 249). Er war bereits in der Selbstanzeige der zweiten Abhandlung über die biqua- dratischen Reste vom 15. April 1S3I (W. II, 8. 177), in der er seine geo- metrische Versinnlichung der komplexen Grössen darlegt, auf den Unterschied von rechts und links eingegangen und hatte bemerkt, dieser Unterschied sei »sobald man vorwärts und rückwärts in der Ebene und oben und unten in Beziehung auf die beiden Seiten der Ebene einmal (nach Gefallen) festgesetzt hat, in sich völlig bestimmt, wenn wir gleich unsere Anschauung dieses Unterschiedes andern nur durch Nachweisung an wirklich vorhandenen mate- riellen Dingen mitteilen könnenc In einer Fussnote hatte er hinzugefügt: »Beide Bemerkungen hat schon Kant gemacht, aber man hegreift nicht, wie dieser schai-fsinnigc Philosoph in der ersteren einen Beweis für seine Meinung, dass der Raum nur Form unserer äusseren Anschauung sei, zu finden glauben konnte, da die zweite so klar das Gegenteil und dass der Raum unabhängig von unserer Anschauungsart eine reelle Bedeutung haben muss, beweiset" (vgl. auch W, Xi, 8. 409): eine ähnliche Bemerkung enthält der Brief an

Uargtellim;; lasse sich von einigen Mängeln, die in ihr anzutreffen seien, befreien ; vgl. auch W. Killing, Eittfiihruny in die Gnmdluijen der Geometrie, lid. II, Paderborn isiib, S. iba.

DIE GRUNDLAGEN DER GEOMETRIE. 45

Schumacher vom 8. Februar 1S46 W. VIII, S. 247)'). Einen zweiten Grund gegen Kants Meinung hat Gauss in dem Brief an W. Bolyai vom 6. März 1832 vorgebracht. »Gerade in der Unmöglichkeit zwischen S [Euklidischer Geometrie] und <S [nichteuklidischer Geometrie] a priori zu entscheiden, liegt der klarste Beweis, dass Kant Unrecht hatte zu behaupten, der Raum sei nur Form unserer Anschauung« W. VIII, 8. 224 .

In dasselbe Kapitel wie die Erörterungen über die Begriffe von Rechts und Links gehören die Einführung der gerichteten geraden Linien (\V. VIII, S. 408 1, die Unterscheidung zwischen den beiden zu einem grössten Kreise der Kugel gehörenden Polen (W. VII, S. 17 7, IV. S. 221) und die Sätze, dass symmetrische sphärische Dreiecke flächengleich, symmetrische Raumstücke volumengleich sind. Gerling hatte den ersten Satz diu'ch Zerlegung in Teil- Dreiecke bewiesen, die paarweise kongruent sind (Brief an Gauss vom 25. März 1813, W. VIII, S. 240\ Als er am 26. Februar 1844 darauf zurückkam, forderte ihn Gauss auf, den zweiten zu beweisen (Brief vom 8. April 1844, W. VIII, S. 241). Gerling konnte auch hier zeigen, dass die Gebilde sich in PjTramiden zerlegen lassen, die paarweise kongruent sind (Brief vom 15. April 1844, W. VIII, S. 242)-). Nunmehr warf Gauss die Frage auf, ob man in ähnlicher Weise, unabhängig von der Exhaustionsmethode, zeigen könne, dass Pyramiden von gleicher Grundfläche und gleicher Höhe gleichen Rauminhalt haben Brief vom 17. April 1844, W. VIII, S. 244 '), aber hier gelangte Ger- ling nicht zum Ziele (Brief vom 7. Juli 1844, W. VIII, S. 245). Durch die Herausgabe der bis dahin unbekannten Briefe von Gauss und Gerling im achten Bande der Werke (1900) wurde die Aufmerksamkeit auf die Frage der Volumengleichheit der Polyeder gelenkt, und so könnte man letzten Endes

1) Vgl. noch E. Stidy, Bie Begriffe Links, Rechts, Windungssinn und Drehungssinn, Archiv der Mathematik und Physik, 3. Reihe, Bd. 21, lois, S. i'J3; hier wird auf den Briefwechsel zwischen Gauss und Gekling ausführlich Bezug genommen.

2) Gerlings Beweis ist von HESsf;L vereinfacht worden ; Einige neue Beweise von Lehrsätzen aus der Elementar- Stereometrie, Archiv der Mathematik und Physik, I.Reihe, Bd. 7, 1846, S. 284; Hessei, be- merkt, dass Gerlixg durch Gauss zu seinen Untersuchungen veranlasst worden sei.

3) Es ist nicht ausgeschlossen, dass Gauss diese Fragestellung dem Tentamen AVolfg.\NG Bolyais verdankte; dieser hatte die Frage von der »endlichen Gleichheit« bei Flächenstücken ausführlich untersucht und dazu bemerkt, ob eine beliebige dreiseitige Pyramide durch endliche Gleichheit auf ein Prisma zurück- geführt werden könne oder nicht, sei noch nicht klargestellt [Tentamen, t. II, S. I7s. ed. secunda, Budapest 1904, S. 241; vgl. BOL. S. 40 und ISS).

46 STÄCKET,, GAUSS AT.S GEOMETER.

den Bi'weis Dehns. dass die Exhaustionsmcthode bei der Vülumenbestimmung unentbehrlich ist'), auf eine Ani'egung von Gauss zuiückfühien.

Abselinilt II.

Geometria sitns.

11.

Allgemeines über die Geometria situs bei Gauss.

Von den Schriften, die Gauss veröffentlicht hat, bezieht sich keine un- mittelbar auf die Geometria situs, und doch hat dieser Gegenstand ihn sein ganzes Leben hindurch beschäftigt. Aus Gesprächen mit Gauss, die in dessen letzte Lebensjahre, 1S47 bis 1855, fallen, berichtet Sartorius v. Walters- hausen: »Eine ausserordentliche Hoffnung setzte er auf die Ausbildung der Geometria situs, in der weite, gänzlich unangebaute Felder sich befänden, die durch unseren gegenwärtigen Kalkül noch so gut wie garnicht beherrscht werden könnten« (Sartorius, S. 88). Eine ganz ähnliche Äusserung hatte er aber etwa 50 Jahre früher getan. Am 12. Oktober 1S02 schrieb er an Olbers: ». . . auch werde nächstens ein Werk von Carnot, Geometrie de position'^) herauskommen, worauf ich überaus begierig hin. Dieser bisher fast ganz brachliegende Gegenstand, über den wir nur einige Fragmente von Euler und einem von mir sehr hochgeschätzten Geomcter Vandermonde haben, muss ein ganz neues Feld eröffnen und einen ganz eigenen, höchst interessanten Zweig der erhabenen Grössenlehre bilden« (Br. G.-O. 1, S. 103).

1) M. Dehn, Über raumgleiche Polyeder, Göttinger Nachrichten mod, S. :i45; Über den Rauminhalt, Math. Annalen, Bd. &5, nioi, S. 465; vgl. jedoch schon R. Uricard, Sur une question de giomitrie relative aux polyedres, Nouv. ann. de math., serie 3, t. n, 18'J6, S. 331 und G. Si'OR/A, Un' osservazimie null' eqüi- valeriza dei poUedri per congruema delle parli, Periodico di mat., t. 12, I8'.i7, S. 105.

2) L. Carnot, Geometrie de posilion, Paris IS03; ins Deutsche übersetzt von H. C. Schumacher, 2 Bände, Altena I810. Unter Geometrie de position versteht jedoch Carnot etwas anderes als die Geo- metria situs, nämlich Untersuchungen, die sich auf die Anwendung negativer Zahlen in der Geometrie be- ziehen. Später hat man vielfach auch die projektive Geometrie als Geometrie der Lage bezeichnet und ihr die Geometrie des Masses gegenübergestellt, was ebenfalls mit der Geometria situs im Sinne von Gauss nichts zu tun hat.

GEOMETRIA SITUS. 47

In der Tat hatte Euler die Frage behandelt, ob es möglich sei, die sieben Brücken, die in Königsberg i. Pr. über die Pregelarme führen, hinter einander und jede nur einmal zu überschreiten';. Er hatte femer die grund- legende Beziehung zwischen den Anzahlen der Ecken, Kanten und Seiten- flächen eines konvexen Polyeders entdeckt und bewiesen-]. Endlich hatte er sich mit den Rösselsprüngen auf dem Schachbrett befasst^. An ihn anknüpfend hatte Vandermonde die mathematische Behandlung des Rösselsprunges ge- fördert und sein Verfahren auf die anal) tische Darstellung von Geweben aus-7 gedehnt*;.

Es seien noch zwei Äusserungen von Gauss angeführt, die aus der Mitte seiner Lebensbahn überliefert sind.

Am 30. Oktober 1825 berichtet Gauss seinem Freunde Schumacher, dass er in den Untersuchungen über die allgemeine Lehre von den ki-ummen Flächen Fortschritte gemacht habe, und sagt: »Man muss den Baum zu allen seinen Wurzelfäden verfolgen, und manches davon kostet mir wochenlanges angestrengtes Nachdenken. Vieles davon gehört sogar in die Geometria situs, ein fast noch ganz unbearbeitetes Feld« (W. VEEI, S. 400).

In einer Aufzeichnung im Handbuch 19 Be, die vom 22. Januar 1833 datiert ist, heisst es: «Von der Geometria Situs, die Leibniz ahnte, und in die nur einem paar Geometem (Euler und Vandermonde) einen schwachen Blick zu tun vergönnt war, wissen und haben wir nach anderthalbhundert Jahren noch nicht viel mehr wie nichts. Eine Hauptaufgabe aus dem Greuz-

1) L. Euler, Solutio pröblematis ad geometriam situs pertinentis, Coniment. acad. sc. Petrop. s (I7:i6), l"4), S. I2S vorgelegt den 26. August i"35); vgl. den Artikel Situation von d'Alembert, Encyclopedie methodique, Abteilung Math., Bd. III, Paris 1789, S. 53.

2) L. Edler, Elementa doctrinae solidorum, Novi Comment. acad. sc. Petrop. 4 (1752/3), 17S8, S. lou (gelesen Berlin, den 26. Nov. 1750) ; Demonstratio nonnullarum proprietatum, quibus solida hedris planis inclusa sunt praedita, ebenda, S. 14» (vorgelegt den 6. April 1752); vgl. A. L. F. Meister, Commentatio de solidis geometricis, Comment. See. sc. Gotting. Vol. 7 (17S4/S5) 17 86, Comm. Math. S. 1.

3) L. Edler, Solution d'une question curieuse qiii ne paroit soumise ä aucune analyse, Hist. de TAcad., annee 1759, Berlin 1766, Memoires, S. 3lii.

4) Ch. A. Vandermonde, Bemarques sur les prdbVcmes de Situation, Hist. de l'Acad. annee 1 7 7 1 , Paris 1774, S. 566. V. sagt: »Leibniz promit un ealcul de Situation et mourut sans lien publier. C'est un sujet tout reste ä faire et qui meriterait bien qu'on s en occupät«. Zu nennen wären femer noch die Abhandlungen: N. 1''ergol.\, Nuovo metodo da risolvere alcuni prohlemi di sito e posizione, Atti dell- Acad., Napoli 1787, S. ii9; Nuove ricerdie sulle risolueioni dei prohlemi di sito, ebenda, S. ts; und A. N. GlORU.ASo, Nuovo metodo da risolvere alcuni prohlemi di sito e posizione, ebenda, S. i:)'j.

48 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

gebiet der Geometria Situs und der Geometria Magnitudinis wird die sein, die Umschlingungen zweier geschlossener oder unendlicher Linien zu zählen« (W. V., S. 005).

Bei den vorstehenden Worten hat Gauss wohl an den Brief gedacht, den Leibniz am S.September 1679 an Huygens gerichtet hatte imd der damals von Uylenbroek veröffentlicht worden war"). Leibniz schreibt dort: »Je crois qu'il nous faut encore unc autrc Analyse proprement geometrique ou Unfaire qui nous exprime directement situm, comme l'Algebre exprime magnitu- dineni".

Die Göttinger Gelehrten Anzeigen vom Jahre 1834 enthalten eine aus- führliche Besprechung der ÜTLENBROEKSchen Veröffentlichung von M. Stern (seit 1829 Privatdozent der Mathematik in Göttingen), den der Essay von Leibniz um so mehr interessiert hatte, »als ei' sich erinnert, von dem grössten Mathematiker unserer Zeit einige Ideen über Geometrie gehört zu haben, die mit einigen hier vorkommenden durchaus übereinstimmen« (S. 1940). Hierzu ist jedoch zu bemerken, dass Leibniz weniger an die Geometria situs im Sinne von Gauss »als an einen geometrischen Algorithmus denkt, der für einzelne geometi'ische Probleme eher eine genuine Lösungsmethode liefert, als die Me- thode der gewöhnlichen analytischen Geometrie«^).

Bei der Geometria situs besitzen wir in den wenigen uns erhaltenen Auf- zeichnungen und überlieferten gelegentlichen Äusserungen nur die Spuren ausgedehnter Untersuchungen, die Gauss angestellt hatte. Dies geht auch daraus hervor, dass er wiederholt geplant hat, darüber etwas durch den Druck bekannt zu machen. So schreibt Möbius am 2. Februar 1847 an Gauss: »Wie ich von W. Weber gehört habe, haben Sie schon vor einigen Jahren beab- sichtigt, als Einleitung oder Vorbereitung der Theorie der elektrischen oder

i; J. L'Yi.ENisiioEK, Chr. Hugenii aliorumque secuU XVII. virorum celebrium exercitationes viathe- maticae et philosojjhicae, Haag isas, Heft l, S. a ; im Heft 2, S. 6 ist der dem Briefe beigelegte Ver- such einer geometrischen Charakteristili abgedruckt. Beides findet man wieder in LElUNIzens Mathemati- schen Schriften, herausgegeben von C. J. Gerhardt, i. Abt., Bd. 2, Berlin isso, S. l9, 2o, ferner in Gra.s.s- MANNs Gesammelten mathematischen und physikalischen Werken, Bd. I, Teil i, Leipzig 1894, S. 4i7, in den Oeuvres complHes von Chr. Hlvgens, Bd. 8, Haag 18U9, S. 216, 2ii) und endlich bei C. J. Gkrhaudt, Der Briefweclisel von Leibniz mit Mathematikern, Bd. 1, Berlin 18!)9, S. 568, 57o.

2) M. Dehn und V. Heeoaard, Analysis situs, Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften, Bd. Ill, Teil 1, S. l.'.4.

GEOMETRIA SITUS. 49

magnetischen Strömungen eine Abhandlung über aUe möglichen Umschlingungen eines Fadens zu schreiben. Steht es nicht zu hoffen, dass diese Abhandlung bald erscheinen wird? Die Erfüllung dieser Hoffnung wüi'de mir und gewiss auch vielen Andern sehr erwünscht sein« (Brief im Gauss -Archiv:. Gauss scheint dem Gedanken einer solchen Veröffentlichung näher getreten zu sein, hat jedoch schliesslich davon Abstand genommen. Dies ergibt sich aus einem Briefe an Möbius vom 13. August 1849, in dem er diesem zunächst für die Übersendung einer Abhandlung über die Gestalten der Kurven dritter Ord- nung dankt und ihn auffordert, in entsprechender Weise die gestaltlichen Ver- hältnisse der algebraischen Kurven zu untersuchen, die in GAUSsens Disser- tation 1709 auftreten, und dann fortfährt: »Anderes damit Verwandtes hat mich vielfach beschäftigt, und ich wollte erst in meiner neulich 16. Juli 1849] in der Sozietät gehaltenen Vorlesung [Beiträge zur Theorie der algebraischen Gleichungen] die Darstellung der Hauptmomente jener Untersuchung als dritten Teil bestimmen; aber ich würde zur Ausarbeitung dieser Darstellung einer viel grösseren Müsse bedui'ft haben, als sie mir zu Gebote gestanden hat« (W. Xi, S. 109. Eine Andeutung dieser Absicht ist wohl die Stelle in Art. 3 der Beiträge, wo Gauss bemerkt, die von ihm vorzutragende Beweisführung für den Fnndamentalsatz der Algebra »gehöre im Grunde einem höhern, vou Räumlichem unabhängigen Gebiete der allgemeinen abstrakten Grössenlehre an, deren Gegenstand die nach der Stetigkeit zusammenhängenden Grössen- kombinationen sind, einem Gebiete, welches ziu- Zeit noch wenig angebauet ist, und in welchem man sich auch nicht bewegen kann ohne eine von räumlichen Bildern entlehnte Sprache« (W. III. S. 79). Vielleicht enthält das Bruchstück einer Abhandlung über die Konvergenz der Reihen (W. Xi, S. 407 410) einen Teil jener Untersuchungen (vgl. S. 55).

Im Folgenden wird zunächst berichtet werden, was sich unmittelbar aiif Grund der nachgelassenen Aufzeichnungen und mittelbar an der Hand von Veröffentlichungen über andere Gegenstände über die Geometria situs bei Gauss sagen lässt. Alsdann soll versucht werden, dem Einfluss nachzugehen, den mündliche Andeutungen von Gauss auf die Entwicklung dieses Zweiges der Grössenlehre gehabt liaben.

X 2 Abh. A.

50 STÄCKET., GAUSS ALS GEOMETER.

12.

Verknotungen und A'erkettunujen von Kurven.

Eine der ältesten Aufzeichnungen von Gauss, die uns überlmupt im Nach- lass erhalten sind, ist ein Blatt mit der Jahreszahl 1794. Es trägt die Über- schrift: A collect ion of knots iind enthält 13 sauber gezeichnete Ansichten von Knoten mit daneben geschriebenen englischen Namen; man darf wohl annehmen, dass es sich um einen Auszug aus einem englischen Buche über Knoten handelt. Dabei liegen zwei weitere Zettel mit Zeichnungen von Knoten: der eine ist datiert 1819, der andere stammt wohl aus noch späterer Zeit, denn Gauss hat darauf vermerkt: »lliEni,, Beiträge zur Theorie des Se/nien- winkels. AVien 1827«.

Auf die Verknotungen geschlossener Kurven beziehen sich die Bemerkungen, die aus dem Nachlass W. VIII. S. 271 285 abgedruckt sind. Im Besonderen hat Gauss in einer aus dem Dezember 1844 stammenden Notiz die« zahlreichen Formen ermittelt, die geschlossene Kurven mit vier Knoten aufweisen können.

Die Verkettung von zwei Kurven im Räume betrifft die schon erwähnte Bemerkung vom 22. Januar 1833 'W. V, S. 605), in der am Schluss die be- kannte Integialformel für- die Anzahl der Umschlingungcn mitgeteilt wird. »Es war damit der erste Anfang gemacht worden zu der später vor allem durch die von W. Dyck benutzte KRONECKERSche Charakteristikentheorie er- folgreichen Anwendung der höheren Analysis auf die Geometria situs« ').

Die Bestimmung der gegenseitigen Lage von Kurven in der Ebene ist das Mittel, dessen sich Gauss in seiner Dissertation (1799) bei der Herleitung des Fundamentalsatzes der Algebra bedient hatte"). Noch stärker tritt dieser Gesichtspunkt bei der neuen Darstellung vom Jahre IS 49 hervor: »Ich werde die Beweisführung in einer der Geometrie der Lage entnommenen Einkleidung darstellen, weil jene dadurch die grösste Anschaulichkeit und Einfachheit ge-

i< M. Dehn und P. Heegaard, a.a.O., S. iss. Man findet hier auch ausführliche Angaben über die anschliessenden Arbeiten. Hinzuzufügen ist, dass Fr. Zöllneu, Naturwissenschaft «nd christliche Offen- barung, Leipzig issi, S. 100 berichtet, ein gewisser Schürlein, ein Schüler von G.\uss, habe sich sehr eingehend und unter stetiger Teilnahme von G.w.ss mit diesem Gegenstande beschäftigt ; leider ist es nicht möglich gewesen. Näheres hierüber zu ermitteln.

1, In der Fuasnote zum art. 21 der Dissertation sagt Gauss ausdrücklich, Beweise, die sich auf die Geometria situs stützten, seien nicht weniger schlüssig als solche, bei denen man sich der Prinzipien der Geometria magnitudinie bediene.

GEOMETRIA SITUS. 51

winnt« ^^^ III. S. 7vt . Es folgt die vorher (S. 49 angeführte Bemerkung über die nach der Stetigkeit zusammenhängenden Grössenkombinationen. Hierin liegt jedoch keine Einschränkung, weil »zwar die räumliche Anschauung der beste Führer in der Entdeckung neuer Sätze 'der Geometria situs' und ihrer Beweise ist, man aber in jedem einzelnen dieser Fälle sehen kann, dass die in Betracht kommenden Schlüsse auch allein mit Hilfe abstrakter Entwicklungen gemacht werden können» '■.

Endlich sind noch die Untersuchungen zu nennen, die Gauss über die möglichen Verteilungsarten der geozentrischen Örter eines Planeten auf dem Zodiakus angestellt hat (W. VI, S. 106\ und die hierbei erwähnten Fälle eines kettenartigen Ineinandergreifens zweier Planetenbahnen, wie es bei den Aste- roiden mehrfach verwirklicht ist.

13.

MüBius, Listing, Riemann.

Mit der Frage, welchen Einfluss Gauss auf die weitere Entwicklung der (ieometria situs gehabt hat. kommen wir auf ein schwieriges Gebiet, denn ein solcher Einfluss war im Wesentlichen nur möglich durch mündliche Äusserungen, von denen manche, wie es scheint, gar erst diuch Mittelsleute an die Stelle gekommen sind, wo sie gewirkt haben: es waren Funken, die nur da zündeten, wo schlummernde Energien zu wecken waren, und es heisst daher nicht, hervorragende Männer wie Möbius, Listing, Riemann verkleinern, wenn man glaubt, Gauss einen gewissen Einfluss auf ihre Entdeckungen zu- schreiben zu müssen.

MöBius 1790 186S ist nach Abschluss seiner Leipziger Studien im Herbst 1813 als Dreiundzwanzigj ähriger nach Göttingen gekommen und hat dort etwa ein Semester lang unter Leitung von Gauss auf der Sternwarte ge- arbeitet Brief von Gauss an OlbepxS vom 23. April 1814, Br. G.-O. 1. S. 543). Es war die Zeit, wo man in der Astionomie von einer GAUssschen Schule sprechen konnte, aus der Encke, Gekling, Nicolai, ScHxntfACHER, Seeber, Struve, Wächter hervorgegangen sind. Dass der junge Sachse damals in nähere Be- ziehxingen zu Gauss gekommen ist, zeigt der fieundschaftliche Ton der Briefe,

I) M. Dehn und P. Heega.vru, a. a. ()., S. i7o.

52 STÄCKEI., GAUSS ALS GEOMETER.

die lange Jahre hindui-ch zwischen ihnen gewechselt worden sind. Es bestand zwischen Gauss und Möbius. als dieser in Göttingen weilte, jenes Verhältnis, das Gauss am förderlichsten schien. -Meiner Einsicht nach ist [ein förmlicher Unterricht] bei solchen Köpfen, die nicht etwa nur eine Masse von Kennt- nissen einsammeln wollen, sondern denen es hauptsächlich daran liegt, ihre eigenen Kräfte zu üben, sehr unzweckmässig; einen solchen muss man nicht bei der Hand fassen und zum Ziele führen, sondern nur von Zeit zu Zeit ihm AVinke geben, um sich selbst auf dem kürzesten Wege hinzufinden« (Brief an Schumacher vom 2. Oktober 1808. Br. G.-Sch. I, S. 6 . Wie weit die zahl- reichen Berührungspunkte zwischen den Untersuchungen von Möbius und den Gedanken von Gauss auf Gespräche oder auch, wie Listing einmal sagt, auf hingeworfene Äusserungen« zurückzuführen sind, vielleicht zum Teil in unbe- wusster Nachwirkung, entzieht sich unserer Kenntnis. In einem Falle freilich hat sich Möbius ausdrücklich auf eine mündliche Mitteilung von Gauss be- zogen, nämlich in Aufzeichnungen aus den Jahren 1858 und 1859 über die Topologie der kmmmen Flächen und im Besonderen der Polyeder, Aufzeich- nungen, die erst 1886 durch Reinhardt aus dem Nachlass herausgegeben worden sind ' . In dem Abschnitt über Flächen und Polyeder höherer Klasse mehi-fachen Zusammenhanges; werden auch die Eigenschaften eines Doppel- ringes betrachtet, imd es heisst : oMan kann sich einen solchen Doppelring leicht zur Anschauung bringen, wenn man ein Blatt Papier in Form eines T _ Kreuzes ausschneidet und hierauf die Enden FH

und F' H' siehe die Figur; des einen Paares ein- ander gegenüberliegender Arme etwa oberhalb der anfäuglichen Ebene des Kreuzes und die Enden lg BD und B' D' des anderen Paares unterhalb dieser

^ Ebene mit einander vereinigt. Es besitzt diese

niu- von einer Lmie ABW IHHOiTD E^FA begrenzte Fläche noch die merkwürdige Eigen- schaft nach einer mündlichen Mitteilunt' von Gauss :

I A. F. MöBirs, Gesammelte Werke II. Leipzig ISss, S. sis 5s:i. Eineu Teil der darin enthaltenen Krjrebnisse hat MöBlfs veröffentlicht: Theorie der demenlaren Verwandtuchaft, Leipziger Berichte 1885, S. 1». Werke II, S. 4:13; Über die Besliiiiinu»g des InhcMs eines Polyeders, ebenda 1865, S. 31, Werke II

S. 473.

GEOMETßlA SITUS. 53

wodurch G. zur Betrachtung der Fläche geführt worden ist, ist mir unbe- kannt , dass man von irgend \"ier auf ihrem Perimeter auf einander folgenden Punkten P, Q. R, S den ersten mit dem dritten und den zweiten mit dem vierten durch zwei Linien FT TR und QUÜ'S verbinden kann, welche in der Fläche selbst liegen und dennoch einander nicht schneiden, wie dies doch immer geschehen würde, wenn die Fläche eine Grundform der ersten Klasse 'einfach zusammenhängend! wäre« (S. 541 .

Als die Fürstlich .lABLoxowsKische Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig im Jahre 184 4 die Preisaufgabe gestellt und, nachdem keine Lösung eingelaufen war, 1S4 5 wiederholt hatte: »Es soll nach den vorhandenen Bruch- stücken die von Leibniz geplante geometrische Charakteristik wiederhergestellt und weiter ausgebildet werden«, hat Möbics Grassjllnn darauf hingewiesen, und dessen Abhandlung : Geometrische Analyse hat am 1 . -Juli 1 S 4 6 auf den eingehend begriindeten Antrag von Drobisch imd Möbius den Preis erhalten';. MöBius hat am 2. Februar 1S47 einen Abdruck der Preisarbeit an Gauss ge- sandt", sicherlich in der Annahme, dass dieser an dem Gegenstande Anteil nehme.

Weiteres über Beziehungen zwischen Gedanken von Gauss und von Mö- bius findet man im vierten Abschnitt dieses Aufsatzes.

Listing 180 6 1882 hatte in Göttingen Mathematik und Xaturwissen- schaften studiert irnd war dort 1834 unter dem Dekanat von Gauss mit einer Abhandlung über die Flächen zweiter Ordnung promoviert worden. Noch in demselben Jahre schloss er sich Saktorius v. ^\'altershause>" auf einer Reise nach Sizilien an und wurde sein Gehilfe bei den geologischen L^ntersuchungen am Aetna. Nach Deutschland zurückgekehrt ist er seit 1837 als Lehrer der Maschinenkunde am Polytechnikum zu Hannover und seit 1839 als Professor der Physik an der Universität Göttingen tätig gewesen.

Der Nachlass Listings' zeigt, dass er sich schon früh mit dem Knoten- weseni und seinen Beziehungen zur Praxis der Seeleute und der Pioniere

1) Vgl. Grassmmms Leben von F. Engel, Gkassma>"Ss Werke UI, Teil 2. Leipzig i'Jii, S. los— tis. Die Abhandlung ist abgedruckt in den Werken Bd. I, Teil i, S. 321 399.

J) Gkassmaxns Werke UI. Teil 2, S. ut.

3^ Die betreffenden .\ufzeichnungen besitzt teils die Unirersitätsbibliothek in Göttingen, teOs der Ver- fagaer dieses Aufsatzes.

54 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

befasst hat. In einem Briefe an einen gewissen Müller in Göttingrn, datiert Catania, den I.April 1836, schreibt er: »Die erste Idee, mich in der Sache [der Geometria situs] zu versuchen, ist mir durch allerU>i Vorkommnisse bei den jiraktischen Arbeiten auf der Sternwarte in (TÖttingen und durch hin- geworfene Äusserungen von Gauss beigekommen«. Dass Gauss in den Vor- lesungen über praktische Astronomie die Geometria situs berührt hat. bezeugt die Theorie den Vortrags von Lehren, die Raumverhnltnisse betreffen. W. VIII, S. 196—199.

In demselben Sinne schreibt Listing in einer 1856 verfassten kurzen Lebensbeschreibung: »Einen andern Gegenstand meiner Beschäftigung bildet seit langer Zeit die Untersuchung der modalen nichtquantitativen) Raum- verhältnisse, zu der schon IjEibniz die Idee gefasst hatte. Ich habe zu dieser fast noch ganz unausgebauten quasi-mathematischen Disziplin, zum Teil durch Gauss aufgemuntert, in den Vorstudien zur Topologie, Göttingen 1847, einen ersten Versuch veröffentlicht, dem ich künftig noch andere hoffe folgen lassen zu können«.

Nach seinen Aufzeichnungen hat Listing schon während des Aufenthalts in Italien, seit 1835, begonnen, sich mit der Topologie zu beschäftigen; so wollte er die Lehre von den »qualitativen Gesetzen der örtlichen Verhältnisse« genannt wissen, weil der Name Geometrie der I^age schon in anderer Be- deutung verwendet werde. Der lange Brief an Müller vom I.April 1836 beweist, dass er bereits damals im Wesentlichen zu den Ergebnissen gelangt war, die er 184 7 in der Zeitschrift »Göttinger Studien« als Abhandlung und dann 1848 als besondere Schrift veröffentlicht hat. Dass er im Jahre 184 5 seine Beschäftigung mit der Topologie wieder aufnahm und nunmehr zu einem ersten Abschluss kam, ist wohl auf eine Anregung von Gauss zurückzuführen, denn in den tagebuchartigen Notizen, den »Diarien«, die Listing geführt hat, ist unter dem 2. Januar 184 5 verzeichnet; »Bei Gauss, Geometria situs«.

Mit dem Jahre 1858 beginnt eine neue Reihe topologischer Untersuchungen, die zu der grossen, 1862 erschienenen Abhandlung über den Census räumlicher Complexe geführt haben. Das Ziel Listings war, dem EuLERSchen Satze über die Beziehung zwischen den Anzahlen der Ecken, Kanten und Flächen eines Vielflachs, der nur unter einschränkenden Voraussetzungen richtig ist, eine allgemein gültige Form zu geben. Merkwürdigerweise hat in demselben

GEOMETRIA SITUS. 55

Jahre 185S auch Möbius begonnen, sich mit der Geometria situs der Polyeder zu beschäftigen'), und beide, Listing und Möbius, sind fast gleichzeitig und unabhängig von einander zur Entdeckung der einseitigen Flächen gelangt").

Den Schlüssel zur Verallgemeinerung des EuLERSchen Satzes bildet der Begriff des Zusammenhangs oder, wie Listing mit einem nicht üblich ge- wordenen Worte sagt, der Cyklose, die einem irgendwie berandeten Flächen- stücke zukommt. Dass Gauss den Begriff des Zusammenhanges und seine Bedeutung für die Lehre von den Funktionen einer komplexen Veränderlichen erkannt hat, zeigt das aus dem Nachlass herausgegebene Bruchstück über die Konvergenz der Entwicklungen periodischer Funktionen iVV. Xi, S. 410 412), das um das Jahr 1850 entstanden ist. Aiich die bereits erwähnte mündliche Mitteilung an Möbius über den Doppelring und die darauf liegenden Kurven gehört hierher. Ob Listing durch Äusserungen von Gauss auch zur Fort- setzung seiner Untersuchungen über die Topologie angeregt worden ist, muss dahingestellt bleiben. Ebenso ist das Verhältnis, in dem die Arbeiten von Riemann über die Analysis situs ^) zu den topologischen Untersuchungen von Listing stehen, noch ungeklärt.

Während bei Möbius und Listing eigene Zeugnisse vorliegen, dass sie durch Gauss zur Beschäftigung mit der Geometria situs angeregt worden seien, obwohl nicht festgestellt werden kann, in welchem Umfange das geschehen sein mag, sind wir bei Riemann (182G 1866) lediglich auf Vermutungen ange- wiesen. Ein unmittelbarer Verkehr mit Gauss kommt kaum in Betracht, wohl aber darf man an eine Vermittlung GAUssscher Gedanken durch A. Ritter (1826—1908) und W. Weber (1804 1891) denken. Ritter hat während seiner Göttinger Studienzeit, 1S50 bis 1853, in engen Beziehungen zu Rie- mann gestanden, die sich später fortsetzten ; es ist anzunehmen, dass Riemann durch ihn Kenntnis erhalten hat zum Beispiel von den Ausführungen, die Gauss in der Vorlesung über die Methode der kleinsten Quadrate im Winter- semester IS 50/51 über w-dimensionale Mannigfaltigkeiten gemacht hat W. Xi,

1) Vgl. die Bemerkung Reinhardts, Mönius Werke II, S. sin.

2) Vgl. P. Stäckel, Die Entdeckung der einseitigen Flächen, Math. Annalen, Bd. 52, isü'J, S. 59S.

3) B. Riemann, Grundlagen für eine allgemeine Theorie der Functionen einer veränderlichen com- plexen Grösse, Dissertation, Göttingen I85i, art. ß; Werke, 1. Aufl., S. a 12; Theorie der Abelsclieti Func- tionen, zweiter Abschnitt, Ckelles Journal, Bd. 54, 1S57, Werke, i. Aufl., S. 84 S9.

56 STÄCKEL, GAUSS AI,8 GEOMETER.

S. 473 482). Mit Weber aber stand Riemann seit 18 50 als Teilnehmer, seit 1S53 als Assistent an dessen mathematisch -physikalischem Seminar in engem Verkehr*!, und wir haben aus dem Briefe von Möbius an Gauss vom 2. Fe- bruar 1S47 erfahren, dass dieser mit Weber über die Umschlingungen zweier Kurven im Räume gesprochen hatte. Wie dem aber auch sei, so gibt es kein Anzeichen, dass Gauss den Begriff" der mehrblättrigen Fläche, die zur Darstellung des Verlaufs einer mehrdeutigen Funktion einer komplexen Ver- änderlichen dient, gekannt habe, und hier liegt also sicher eine durchaus ur- sprüngliche Schöpfung RiEMANNS vor.

Abschnitt III. Die komplexen Grössen in ihrer Beziehung znr Geometrie.

14.

Kreisteilung.

Die »Darstellung der imaginären Grössen in den Relationen der Punkte in piano« (Brief an Drobisch vom 14. August 1834, W. Xi, S. 106) hat nicht nur für die arithmetischen und funktionen theoretischen, sondern auch für die geometrischen Untersuchungen von Gauss eine so grosse Bedeutung, dass den Beziehungen der komplexen Grössen zur Raumlehre ein besonderer Abschnitt dieses Aufsatzes gewidmet werden soll; in ihm sollen die Ausführungen, die in den Aufsätzen über Gauss' Arbeiten zur Zahlentheorie, Funktionentheorie und Algebra enthalten sind, wieder aufgenommen und ergänzt werden.

Schon sehr früh hat Gauss versucht, um einen von ihm gern gebrauchten Ausdruck anzuwenden, in die Metaphysik der imaginären Grössen einzudringen. In der Selbstanzeige der zweiten Abhandlung über die biquadratischen Reste vom Jahre 1831 sagt er, dass er »diesen hochwichtigen Teil der Mathematik seit vielen Jahren betrachtet habe« (W. II, S. 17 5), und in dem Briefe an Drobisch vom 14. August 1S34 freut er sich, dass dieser »auf seine schon fast

I) Vgl. die Bemerkungen Dkdekinds in KlEJlANNS Lebenslauf, Werke, l. A\ifl., S. 512—516.

DIE KOMPLEXEN GRÖSSEN IN IHRER BEZIEHUNG ZUR GEOMETRIE. 57

seit 40 Jahren gehegten Grundansichten über die imaginären Grössen einge- gangen sei« (W. Xi, S. 10(5. Als solche Grundansichten wird man wohl erstens die Erkenntnis zu bezeichnen haben, dass »den komplexen Grössen das völlig gleiche Bürgerrecht mit den reellen Grössen eingeräumt werden müsse« (W. II, S. 17 1 ), und zweitens, dass diese Grössen »ebenso gut wie die negativen ihre reale gegenständliche Bedeutung haben« (W. Xi, S. 405), die sich in ihrer »Versinnlichnng durch die Punkte einer unbegi'enzten Ebene« (W. Xi, S. 40 7 1 kund gibt.

Wird man durch die vorstehenden Angaben von Gauss etwa auf die Jahre 1795 und 1796 zurückgeführt, so kann als Bestätigung eine Stelle der Disquisitiones arithmeticae dienen, und zwar aus dem dritten Abschnitt, der nach Bachmann W. X2, Abh. 1, S. 6) im Wesentlichen bereits 1796 entstanden und 1797 niedergeschrieben worden ist (der Druck der Disquisitiones begann im April 1798 und hat mit verschiedenen Unterbrechungen bis 1801 gedauert). Dort sagt Gauss, er wolle auf die Lehre von den imaginären Indizes, zu denen man bei Modviln ohne primitive Wurzeln seine Zuflucht nehmen muss, bei einer anderen Gelegenheit eingehen, »wenn wir es vielleicht unternehmen werden, die Lehre von den imaginären Grössen, die wenigstens nach unserem Urteil bis jetzt von Niemandem auf klare BegTifl^"e zurückgeführt ist, ausführ- licher zu behandeln« (W I, S. 71).

Im Tagebuch, das mit dem März 1796 beginnt, flndet sich keine Auf- zeichnung, die man mit einer solchen Absicht in Verbindung bringen könnte. Wohl aber zeigt gerade die erste Eintragung, dass Gauss in der vorher- gehenden Zeit mit imaginären Grössen zu tun gehabt hatte, denn er \er- kündet hier, dass er die geometrische Siebzehnteilimg des Kreisumfanges ent- deckt habe, das heisst, wie wir aus dem Briefe an Gerling vom 6. Januar 1819 (W. Xi, S. 125) wissen, die Auflösung der zugehörigen Kreisteilungs- gleichung mittels wiederholter Ausziehung von Quadratwurzeln, und zwar hatte Gauss, nach den, Angaben in demselben Briefe, schon während seines ersten Semesters in Göttingen, das Oktober 1795 begann, die Kreisteilungsgleichungen für einen beliebigen Primzahlgrad untersucht.

Dass die Teilung des Kreisumfanges in n gleiche Stücke mittels imagi- närer Grössen auf die Lösung der Gleichung a," 1 = 0 zurückgeführt werden

X'2 Abh. 4. 8

58 STÄCKEL, GAUSS AT.S GEOMETER.

kann, ist eine Einsicht, die man Cotes ') nnd Moivre *) verdankt, die aber erst dui"ch Eüler geklärt und sichergestellt worden ist*). Später hat sich Vändermonde mit der Auflösung solcher Gleichungen mittels Wurzelziehens befasst. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Gauss bei der Abfassung der Disqui- sitiones arithmeticae dessen Abhandlung gekannt hat, denn in dem Briefe an Oi.HEUS vom 12. Oktober 1802 sagt er, dass wir über die Geometria situs »nui* einige Fragmente von Euler und einem vou mir sehr hochgeschätzten Geo- meter Vändermonde haben« Br. G. -(). . 1, S. lu3). Die Abhandlung über Geometria situs steht aber in demselben Bande der Pariser Denkschriften für das Jahr 1771 wie die Abhandlung über die Auflösung der algebraischen Gleichungen*,.

Nachdem Gauss im Art. 337 der Disquisitionea arithmeticae (AV. 1, S. 414) bemerkt liat, die trigonometrischen Funktionen der Bögen

•Ikr.jn k = 0, 1, 2, .... w 1)

seien die AVurzeln von Gleichungen w-ten Grades, fährt er fort: ».Jedoch ist keine dieser Gleichungen so leicht zu behandeln und für unseren Zweck so geeignet, wie diese : o." 1 = 0, deren Wurzeln bekanntlich mit den Wurzeln jener aufs engste verbunden sind. Wenn man nämlich der Kürze halber / für die imaginäre Grösse \j—\ schreibt, so werden die Wurzeln der Gleichung x" 1 = 0 durcli

cos 2A*Tr/w-(-* sin Ik-KJn

dargestellt, wo für Ä- alle Zahlen 0, 1, 2, ...,// ) zu nehmen sind«.

1) R. Cotes, Harmonia nicnsurarum, sive analysis et synthesix per ralionum et aiiguJonim meiiwras promuta, Cambridge 17 22.

2) A. DE Moivre, Miscellanea analytica, London ivno.

:)) L. Euler, Jntroduetio in analysin, Lausanne und Genf I74s, siehe besonders t. I, cap. S: De quantitatibus transcendentibus ex circulo ortis.

4 Ch. A. Vaxdermokde, Remarques sur les pröblhnes de Situation, Histoire de l'Acad., annee 177|, Paris 1774, Memoires, S. 5GC; Sur la resolution des equatimis; ebenda, S. idL-i; die letztere Abhandlung ist in deutscher Sprache herausgegeben von C. IrzicsoHN, Vändermonde, Abhandlungen aus der reinen Mathe- matik, Berlin 1887. Auf S. :i75 behauptet Va.nüermonde, die Gleichung .t" I = o sei für jeden Grad n durch Wurzelziehen lösbar und führt die Rechnungen für einige Fälle durch, im Besonderen für n ^ 1 l . Für die Exponenten n ^ lo hatte schon Euler, De exlraclione radicutn ex quantitatibus irratiünalibus, Com- ment. acad. sc. Petrop. 13 ;i74l/3 1751, § :i!) bis 48, Opera omnia, ser. I, vol. 6, S. 31, die Wurzeln mittels blosser Wurzekiehungen dargestellt ; dagegen, meint er, führe der Fall n = ii auf eine Gleichung fünften Grades, deren Lösung noch verborgen sei.

DIE KOMPLEXEN GRÖSSEN IN IHRER BEZIEHUNG ZUR GEOMETRIE. 59

Auf diese Art werden den Eckpunkten des regelmässigen w-Ecks. das dem Ki-eise vom Halbmesser Eins eingeschrieben ist, die soeben angegebenen komplexen Grössen zugeordnet. Die dabei auftretenden Grössen cos -Ikr^jn und sin Ikizln sind die rechtwinkligen kartesischen Koordinaten der be- treffenden Eckpunkte, wenn der Mittelpunkt des Kreises zum Anfangspunkt gewählt uud die Abszissenachse durch den Eckpunkt gelegt wird, für den k = {) ist. Mithin gelangt man in diesem Falle ganz unmittelbar zu der GAUSSSchen Versinulichung der komplexen Grössen durch die Punkte einer Ebene.

Dass die Betrachtung der Eckpunkte des «-Ecks Gauss geläufig war, zeigt auch die Ausdi'ucksweise, ganze Zahlen seien »kongruent modulo ««, wenn sie sich um Vielfache einer ganzen Zahl n unterscheiden: beim Durch- laufen des Ki'eisumfangs entsprechen nämlich den AVerten von k, die mod. n kongruent sind, dieselben Eckpunkte des ?;-Ecks. und so hat die Bezeichnung »kongment« ihre gute geometrische Bedeutung.

Ob die geometrische Versinulichung der komplexen Grössen den Unter- suchungen über die Kreisteilung entsprungen ist, lässt sich freilich nicht mit Sicherheit entscheiden. Man könnte dagegen einwenden, dass auch bei Euler Grössen der Form cos cp -\- i sin cp an mehr als einer Stelle in einer Weise auf- treten, die ihre geometrische Bedeutung nahe zu legen scheint, ohne dass es dazu gekommen ist, und die Hauptsache liegt in dem Entschluss, die imagi- nären Grössen als den reellen gleichberechtigt anzuerkennen. Vielleicht hat Gauss diese Anerkennung diuch die bereits erwähnte Einführung des Zeichens i im art. 337 der Disq. aritli. andeuten wollen'). Dass er sich in den Disqui- sitiones wie in der Dissertation (1799) mit Andeutungen begnügte, ist wohl teils aus seiner Scheu, strittige Dinge zu berühren, teils aus dem Umstände zu erklären, dass er selbst, wenn auch seine »Grundansicht« feststand, die neue Lehre noch nicht für reif hielt. In der Tat ist er erst nach einer langen und harten Arbeit zu einer ihn befriedigenden Auffassung der imaginären

1) Das Zeichen i für v'— findet sich gelegentlich schon bei Euler, nämlich in der am 5. Mai 1777 der Petersburger Akademie vorgelegten Abhandlung : De formulis differentialibus angularibus maxime irrationalibus, quas tarnen per logarithmos et arctts circulares integrare licet, die 1794 aus dem Nachlass im vierten Bande der Institutianes calculi inlegralis .ibgcdruckt ist, ed. tertia, Petersburg \%\b, S. 1S4. Gavss hat das Zeichen t seit dem Jahre 1801 beständig ange'vvandt und seinem Beispiel sind die M.ithematiker gefolgt.

60 STÄCKEI,, GAUSS ALS GEOMETER.

Grössen gelangt. So schreibt er am II. Dezember 1825 an Hansen, seine Untersuchungen über die allgemeine Lehre von den kiummen Flächen griffen tief ein in die Metaphysik der Raumlehre, »und nur mit Mühe kann ich mich von solchen daraus entspringenden Folgen, wie z. B. die wahre Metaphysik der imaginären Grössen ist, losreissen. Der wahre Sinn des \J— 1 steht mii' dabei mit grosser Lebendigkeit vor der Seele, aber es wird schwer sein, ihn in Worte zu fassen, die immer nur ein vages, in der Luft schwebendes Bild geben können" Brief im GAuss-Archivi. In einer wahrscheinlich im Anschluss an diesen Brief niedergeschriebenen Aufzeichnung Fragen zur Metaphysik der Matheiiuitik ^^^ X 1, S. H9(i hat er versucht, seine Gedanken auszugestalten, und man erkennt hier die Anfänge der Darstellung, die er in der Selbst- anzeige vom Jahre 1831 gegeben hat.

15.

Elliptische, im besonderen lemniskatische Funktionen.

Kin zweiter Anlass, sich mit den imaginären Grössen zu beschäftigen, eröffnete sich für Gauss in der doppelten Periodizität der lemniskatischen Funktionen. Im Januar 1797 hat er diese Funktionen zu betrachten be- gonnen (T. Nr. 5 1 und ist spätestens im März zur Entdeckung der zweiten, imaginären Periode gelangt. Somit ergab sich »die Notwendigkeit, das Gebiet einer veränderlichen Grösse dadurch zu erweitern, dass dieser Grösse auch komplexe Werte beigelegt werden« (Schlesinger, S. 12 . Die darin liegenden Schwierigkeiten kamen sogleich zum Vorschein, als Gauss, die lemniskatischen Funktionen mit dem arithmetisch - geometrischen Mittel verknüpfend, Ende 1 7 '.t 7 zu dem allgemeinen elliptischen Integral erster Gattung überging. Die llealitätsverhältnisse der Perioden sind ihm erst allmählich klar geworden. Bezeichnend hierfür- ist eine Aufzeichnung, die, wie es scheint, aus dem An- fang des Jahres ISoit stammt: »Der Radikalfehler, woran meine bisherigen Bestrebungen, den (jeist der elliptischen Funktion zu verkör])ern, gescheitert sind, scheint der zu sein, dass ich dem Integral

f

die Bedeutung als Ausdruck eines endlichen Teils der Kugelfiäche habe unter- legen wollen, während es wahrscheinlich nur einen unendlich schmalen Kugel-

DIE KOMPLEXEN GRÖSSEN IN IHRER BEZIEHUNG ZUR GEOMETRIE. 61

Sektor ausdrückt« (W. Xi, S. 546\ Offenbar bedeutet, wie Schlesinger dazu bemerkt, Kugelfläche den Ort der komplexen Veränderlichen, der endliche Teil, dessen Ausdruck das Integral sein sollte, das Bild des Periodenparalle- logi"amms. während man zu einem unendlich schmalen Kugelsektor gelangen würde, wenn das Verhältnis der Perioden reell ausfiele; vgl. Werke Xi, S. 515.

In das Jahr 1800 fallen auch Untersuchungen über das arithmetisch- geometrische Mittel (T. Nr. 109 . Gauss hat damals die wesentlichen Eigen- schaften der elliptischen Modulfunktion aufgefunden; das aber wai nur mög- lich, wenn er den Bereich der Veränderlichen auf das komplexe Gebiet aus- dehnte. Man wird daher behaupten dürfen, dass die Auffassungen, die er in dem Briefe an Bessel vom 18. Dezember 1811 (W. VIII, S. 90, Xi, S. 3&6) ausgesprochen hat, bis in die Zeit um 1800 zurückreichen. Er verlangt hier, dass man bei der Einfühnmg einer neuen Funktion in die Analysis erkläre, ob man sich auf reelle Werte der Veränderlichen beschränke oder seinem Grundsatze beitrete, "dass man in dem Reiche der Grössen die imaginären a-j-ib als gleiche Rechte mit den reellen geniessend ansehen müsse«. Es folgen Auseinandersetzungen über den Sinn des Integrals bei Funktionen einer komplexen Veränderlichen, Dabei, sagt Gauss, man könne »das ganze Reich aller Grössen, reeller und imaginärer Grössen, sich durch eine unend- liche Ebene sinnlich machen, worin jeder Punkt, durch Abszisse = a, Ordi- nate = b bestimmt, die Grösse a -\- ib gleichsam repräsentiert«. Dies ist die erste uns bekannte Stelle, wo er die geometrische Versinnlichung der kom- plexen Grössen schiiftlich festgelegt hat.

In dem Entwurf einer Abhandlung über die Konvergenz der Reihen, der aus der Zeit um das Jahr 1851 stammt, hat Gauss seine Ansichten folgender- massen zusammengefasst : »Die vollständige Erkenntnis der Xatur einer analy- tischen Funktion muss auch die Einsicht in ihr Verhalten bei den imaginären Werten des Arguments in sich schliessen, und oft ist sogar letztere unent- behrlich zu einer richtigen Beurteilung der Gebahrung der Funktionen im Gebiete der reellen Argumente. Unerlässlich ist es daher auch, dass die ur- sprüngliche Festsetzung des Begriffes der Funktion sich mit gleicher Bündig- keit über das ganze Grössengebiet erstrecke, welches die reellen und die imaginären Grössen unter dem gemeinschaftlichen Namen der komplexen Grössen in sich begreift« (W. X i, S. 405).

62 STÄOKEL. GAUSS ALS GEOMETER.

In einem zweiten Entwiufe hat Gauss seine Ansichten genauer darzulegen begonnen W. Xi, S. 407 4 1 Gl. Wir AA'erden darauf in Nr. 19 eingehen und fahren fort in der Schilderung der Frühzeit.

16.

Existenz der Wurzeln algebraisclier (Gleichungen.

Das Jahr 17 97 brachte niclit nur die Entdeckungen über die lemniskati- schen Funktionen, damals ist auch der Beweis für die Existenz der Wurzeln algebraischer Gleichungen entstanden, den Gauss in der Dissertation 1799 veröffentlicht hat T. Nr. 80). Allerdings hat er es dort vermieden, imaginäre Grössen zu benutzen. Schon im Titel hat er den zu beweisenden Satz in der Form ausgesprochen, jede algebraische rationale ganze Funktion einer Veränderlichen [mit reellen Koeffizienten] könne in reelle Faktoren ersten oder zweiten Grades zerlegt werden, und im Art. :? äussert er sich über die imaginären Grössen in sehr vorsichtiger und zui'ückhaltender Weise. »Sollen die imaginären Grössen überhaupt in der Analysis beibehalten werden, was aus mehreren Gründen, die freilich hinreichend sichergestellt werden müssen, richtiger scheint, als sie zu verwerfen, dann müssen sie notwendig für ebenso möglich gelten wie die reellen .... Doch will ich mir die Rechtfertigung der imaginären Grössen sowie eine eingehende Auseinandersetzung dieses ganzen Gegenstandes für eine andere Gelegenheit vorbehalten« (W". III, S. 6).

Dass Gauss damals schon im Besitze der geometrischen Versinnlichung war. zeigt der Art. 16 (W. III, S. 22), denn die ganze Betrachtung läuft darauf hinaus, dass die Funktion /(,r-|-*.y) in den reellen und den rein ima- ginären Teil zerlegt wird und die Kurven in der .ry-Ebene untersucht werden, in denen je einer der beiden Teile verschwindet. Das sind •die Spuren, die, wie Gauss in der Selbstanzeige vom Jahre 1831 bemerkt hat, der aufmerksame Leser in dcsr Dissertation wiederfinden wird (W. II, S. 17.5). Hierzu ist frei- lich zu bemerken, dass diese Andeutungen an und für sich nicht dazu aus- reichen würden, um den Schluss zu rechtfertigen, dass Gauss damals die geo- metrische Versinnlichung der imaginären Grössen besessen habe, denn auch d'Alembert hat in seinem Beweise für die Wurzelexistenz'), den Gauss im

I) J. d'Alembeet, Recherches sur Ic calad integral, i. partic, Histoirc de l'Acad. Ann6e 17 1«, Berlin

DIE KOMPLEXEN GRÖSSEN IN IHRER BEZIEHUNG ZUR GEOMETRIE. 63

Art. 5 wiedergibt und im Art. 6 beurteilt (W. III, S. 7 11), dasselbe Ver- fahren benutzt, ohne dass ihm doch deshalb die geometrische Versinnlich ung der komplexen Grössen zuzuschreiben wäre.

17.

Biquadratische Reste.

Als Gauss im Jahre 1805 von den quadratischen Resten zu den kubischen und biquadratischen fortschritt, fand er sogleich durch Induktion eine Reihe einfacher Lehrsätze, die mit den für die quadratischen Reste gefundenen Er- gebnissen überraschende Ähnlichkeit hatten, jedoch ist es ihm erst nach vielen, durch eine Reihe von Jahren fortgesetzten Versuchen gelungen, befriedigende Beweise dafür aufzufinden. Zu diesem Zwecke musste er neue Wege ein- schlagen, nämlich »das Feld der höhern Arithmetik, welches man sonst nur auf die reellen ganzen Zahlen ausdehnte, auch über die imaginären erstrecken und diesen das völlig gleiche Bürgerrecht mit jenen einräumen« (W. II, S. 171). Wie es scheint ist diese »erlösende Eingebung« in das Jahr 180 7 zu setzen (Bachmann, W. X2, Abh. 1, S. 55). Vollständig diu-chgedrungen ist Gauss fi-eilich erst 1813 (T. Nr. 144) und veröffentlicht hat er seine Untersuchungen erst 1831 in der Abhandlung über die biquadratischen Reste (W. II, S. 93), die er dui'ch die wiederholt erwähnte Selbstanzeige noch ergänzte (W. II, S. 169). »Wie einfach jetzt auch eine solche Einführung der komplexen Zahlen als Moduln erscheinen mag«, hat Jacobi') geurteilt, »so gehört sie nichtsdestoweniger zu den tiefsten Gedanken der Wissenschaft; ja ich glaube nicht, dass zu einem so verborgenen Gedanken die Aritlimetik allein geführt hat, sondern dass er aus dem Studium der elliptischen Transzendenten gescliöpft ist, und zwar aus der besonderen Gattung derselben, welche die Rektifikation von Bogen der Lemniscata gibt. In der Theorie der Vervielfachung und Teilung von Bogen der Lemniscata spielen nämlich die komplexen Zahlen von der Form a-\-bi genau die Rolle gewöhnlicher Zahlen. ... So wie man einen Kreisbogen, wenn man ihn in 1 5 Teile teilen soll, in 3 und in 5 Teile teilt und aus beiden

1748, Memoires, S. 182 191; vgl. P. Stäckel, Integration durch imaginäres Gebiet, Bibliotheca math. (3)

1 (lilOO), S. 124.

1) C. G. J. Jacobi, über die eomplexeti Primzahlen, Grelles Journal, Bd, ii), issii, S. :n i. Werke VI, S. 27 5.

64 STÄCKEl-, GAUSS ALS GEOMETER.

Teihingen die gesuchte findet, so hat man einen Bogen der Lemniscata, um ihn in 17 Teile zu teilen, in i -\- 4i und 1 4i Teile 7.u teilen, und setzt die Teilung in 1 7 Teile aus beiden zusammen«.

Ebenso wichtig wie diese Erweiterung des Zahlengebietes, mit der die Lehre von den algebraischen Zahlen ins Leben gerufen wurde, ist für die Fortschritte der höheren Arithmetik die Darstellung der ganzen komplexen Zahlen vermöge der Gitterpunkte der Ebene geworden. Hieran schliesst sich bei der Untersuchung der ternären quadratischen Form die Heranziehung der Gitterpunkte im Räume W. II, S. 188). Es ist sogar wahrscheinlich, dass Gauss bereits Zahlengitter im Räume von w Dimensionen betrachtet hat, denn die Andeutung nach dieser Richtung, die Eisenstein 1844 gemacht hat, geht wohl auf seinen Aufenthalt in Göttingen während des Sommers dieses Jahres zurück"). So muss Gauss auch als der Begründer der Geometrie der Zahlen gelten.

Die Bedeutung der beiden \ erötf'entlichungen vom Jahre 183 1 geht jedoch über die Zahlentheorie hinaus. AVenn Gauss in der neuen Darstellung des Beweises für den Fundamentalsatz der Algebra, den er 1849 gab, sagt: "gegen- wärtig, wo der Begriff der komplexen Grössen jedermann geläufig ist« ^W. in, S. 74), so hat die Analysis ihm diesen Fortschritt zu verdanken. Gewiss hatten schon Wessel (1799), Argand (1806) und andere nach ihnen die selb- ständige Berechtigung und die geometrische Darstellung der komplexen Grössen erkannt und wichtige Anwendungen davon zu machen gewusst, allein die Kenntnis und Würdigung ihrer Untersucliungen ist auf enge Kreise beschränkt geblieben. Es bedurfte eines Gauss, um die Hemmungen zu beseitigen und die neuen Anschauungen zum Siege zu führen.

18.

Benutzung der komplexen Grössen für geometrische Untersuchungen.

Es ist eine merkwürdige Tatsache, dass Gauss fast überall, wo er mit seinen Forschungen einsetzte, auf die komplexen Grössen stiess. Gilt das, wie wir gesehen haben, für die Algebra, die Funktionentheorie und die Arith- metik, so ist es nicht minder richtig für die Geometrie selbst.

1) EiSKNSTEiN, Geometrischer Beweis des Fundamentaltheorems für die quadratischen Beste, (Jkellkb Journal, Bd. 28, 1844, S. 248.

DIE KOMPLEXEN GRÖSSEN IN IHRER BEZIEHUNG ZUR GEOMETRIE. Gf)

Die unmittelbare Anwendung der geometrischen Versinnlichuiig der kom- plexen Grössen auf das Dreieck, das Viereck, den Kreis, die Kegelschnitte, die Kugel ist ein Gegenstand, mit dem sich Gauss sein ganzes Leben lang immer wieder beschäftigt hat; ja er hat diese Art der Behandlung geometri- scher Probleme als »eine ihm eigentümliche Methode« bezeichnet (Brief an Schumacher vom 12. Mai 1843, W. VIII, S. 295 . Die betreffenden Unter- suchungen werden im vierten Abschnitt dieses Aufsatzes im Zusammenhang mit den Arbeiten zur elementaren und analytischen Geometi-ie ausführlich dargestellt werden.

Ausserdem ist die konforme Abbildung krummer Flächen zu erwähnen. Allerdings hat Gauss in der Kopenhagener Preisschrift vom .lahre 1822 sich bezüglich der geometrischen Versinnlichung auf Andeutungen beschränkt, die kaum über das hinausgehen, was man in seiner Dissertation lesen kann. Im übrigen sei auf die Darstellung im fünften Abschnitt dieses Aufsatzes verwiesen.

19.

Weiterentwicklung der Lehre von den komplexen Grössen.

Gauss schliesst in der Selbstanzeige vom Jahre 1831 seine Auseinander- setzungen über die imaginären Grössen mit den Worten: »Hier ist also die Nachweisbarkeit einer anschaulichen Bedeutung von \J 1 vollkommen ge- rechtfertigt und mehr bedarf es nicht, um diese Grösse in das Gebiet der Gegenstände der Arithmetik zuzulassen« iW. II, S. 117). In ähnlicher Weise hat er sich später um 1850 in dem schon erwähnten Entwurf einer Abhand- lung über die Konvergenz der Reihen ausgesprochen : »Die imaginären Grössen sind, solange ihre Grundlage immer nur in einer Fiktion bestand, in der Mathematik nicht sowohl wie eingebürgert, als vielmehr niu- wie geduldet betrachtet, und weit davon entfernt geblieben, mit den reellen Grössen auf gleiche Linie gestellt zu werden. Zu einer solchen Zurücksetzung ist aber jetzt kein Grund mehr, nachdem die Metaphysik der imaginären Grössen in ihr wahres Licht gesetzt und nachgewiesen ist, dass diese, ebenso gut wie die negativen, ihre reale gegenständliche Bedeutung haben« W. X i, S. 40-11

Johann Bolyai hat in einer 1837 verfassten, aber erst 1899 aus seinem Nachlass veröffentlichten Schrift Bol. II, S. 233) gegen die Ausführungen von Gauss in der Selbstanzeige vom Jahre 1831 eine Reihe Einwendungen erhoben, Xi Abh. 4. 9

66 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

(lanmter auch die, dass Gauss »sich auf die Betrachtung des Raumes stütze, die man in der Arithmetik vermeiden soll«, und er hatte selbst eine rein arithmetische Einführung der komplexen (Grössen gegeben, die im Wesent- lichen mit Hamiltons') gleichzeitiger Begründung durch das Rechnen mit Grössen- paaren übereinstimmt. Verschiedene Äusserungen von Gauss gestatten den Schluss, dass auch er, eine 183 1 im Keime vorhandene Autfassung weiter entwickelnd, später zu einer von räumlichen Betrachtungen unabhängigen Auf- fassung der komplexen Grössen übergegangen ist.

Tn der Selbstanzeige vom Jahre 1831 wird ausgeführt, dass die komplexen (jrössen zui- Darstellung der Relationen dienen können, die zwischen den Ele- menten einer Mannigfaltigkeit von zwei Dimensionen stattfinden, und es heisst dann, dass sich diese Verhältnisse nur durch eine Darstellung in der Ebene ziu,- Anschauung bringen Hessen (W. II, S. 176). Noch entschiedener sagt Gauss in dem zweiten Entwiuf einer Abhandlung über die Konvergenz der Reihen um 1850): «Zuvörderst ist die bekannte Vcrsinnlichung der komplexen Grössen in Erinnerung zu bringen. ... Es wird damit nur bezweckt, die Bewegung in dem an sich vom Räumlichen unabhängigen Felde der abstrakten komplexen Grössen zu erleichtern und eine Sprache für dasselbe zu vermitteln« (W. Xl, S. 407).

Diese Sprache für die Lehre von den »abstrakten« komplexen Grössen hat Gauss in ihren Anfängen geformt. Eine nach der Stetigkeit fortschreitende Reihe komplexer Grössen bildet einen Zug; jede der dem Zuge angehörigen Grössen ist eine Stelle des Zuges. Ist der Zug gesclilossen, so fügen sich die nach der Stetigkeit zusammenhängenden komplexen Grössen, die in dem Zuge ihre Begrenzung finden, zu einer Schicht zusammen. Man erkennt, dass die geometrischen Namen Linie, Punkt, Fläche vermieden wei'den. In einer Fussnote wird noch hen'orgehoben, dass »die abstrakte allgemeine Lehre von den komplexen Grössen mit der Wechselbeziehung zwischen vorwärts- rückwärts und rechts-links nichts zu schaffen hat« (W. X i, 8. 408).

Was man vermisst, ist eine Erklärung, in welchem Sinne die formalen Bildungen a;-\-ii/ als Grössen bezeichnet werden dürfen. Gauss dürfte auch hierüber seine Gedanken gehabt haben, denn in dem bereits angeführten Briefe

1) R. W. Hamilton, Theory of conjugate funclions, or uhjehraic couples, Transactione of the Royal Irish Academy, Vol. 17, Dublin !«.•):, S. aii».

DIE KOMPLEXEN GRÖSSEN IN IHRER BEZIEHUNG ZUR GEOMETRIE. f!7

an Bessel vom 2 1 . November 1811. in dem er von den Funktionen einer komplexen Veränderlichen spricht, sagt er: »Man sollte überhaupt nie ver- gessen, dass die Funktionen, wie alle mathematischen Begriffszusammen- setzungen, nur unsere eigenen Geschöpfe sind und dass, wo die Definition, von der man ausging, aufhört, einen Sinn zu haben, man eigentlich nicht fragen soll: Was ist? sondern was konveniert anzunehmen? damit ich immer konsequent bleiben kann. So z. B. das Produkt aus . « W. X i, S. 363 ■. Wenn man die Äusserungen über die allgemeine Arithmetik in der Selbstanzeige vom Jahre 1831 hinzunimmt, wo das Gebiet der Zahlen stufen- weise erweitert wird fW. II. S. 175, so ergibt sich, wie nahe Gauss dem Prinzip der Permanenz gekommen ist.

30.

Komplexe Grössen mit mehr als zwei Einheiten.

In dem Brief an Grässmann vom 14. Dezember 1844 sagt Gauss, auf dessen ihm übersandte Ausdehnungslehre Bezug nehmend, »dass die Tendenzen derselben teilweise denjenigen Wegen begegnen, auf denen ich selbst nun fast seit einem halben .Jahrhundert gewandelt bin und wovon fr-eilich nm- ein kleiner Teil 1831 in den Comment. der Göttingischen Societät imd noch mehr in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen (1831, Stück 64) gleichsam im Vorbei- gehen erwähnt ist ; nämlich die konzentrierte Metaphysik der komplexen Grössen, während von der unendlichen Fruchtbarkeit dieses Prinzips für Untersuchungen räumliche Verhältnisse betreffend zwar \ieLfältig in meinen Vorlesungen ge- handelt [')\ aber Proben davon niu" hin und wieder, und als solche nur dem aufmerksamem Auge erkennbar, bei andern Veranlassungen mitgeteilt sind« (W. Xi, S. 4361. Solche Proben finden sich in der Dissertation, in der Kopen- hagener Preisschrift und in verschiedenen kleineren Aufsätzen zur elementai'en Mathematik, über die im vierten Abschnitt berichtet werden wird.

Von der Selbstanzeige in den Göttingischen Anzeigen kommt hier be- sonders der Schluss in Betracht. »Der Verfasser hat sich vorbehalten, den Gegenstand [der komplexen Grössen], welcher in der vorliegenden Abhandlung

1) Zum Beispiel hat Gauss rom Dezember 183'J bis Ostern 174(i eine Vorlesung fiber die Theorie der imaginären Grössen gehalten, Ton der zwei Stücke in den Werken abgedruckt sind (\V. VIII, S. 331 :(;t4 und S. 346—347,.

9*

68 STÄCKEI,, GAUSS ALS GEOMETER.

eigentlich nm- gelegentlich berührt ist, künftig vollständiger 7ai bearbeiten, wo dann auch die Frage, warum die Relationen zwischen Dingen, die eine Mannig- faltigkeit von mehr als zwei Dimensionen darbieten, nicht noch andere in der allgemeinen Arithmetik zulässige Grössen liefern können, ihre Beantwortung finden wird« (W. II, S. 178).

Leider ist (jauss nicht dazu gekommen, das hier gegebene Versprechen einzulösen, und auch die wenigen im Nachlass vorhandenen Aufzeichnungen, die man damit in Beziehung bringen kann, reichen nicht aus, um festzustellen, was er mit seinen Andeutungen gemeint hatte.

Ebenso wie den Punkten der Ebene aus den Einheiten 1 und i gebildete bi komplexe Grössen W. VIII, S. 354 zugeordnet werden, kann man für die Punkte des Raumes trikomplexe Grössen benutzen (W. VIII, S. 353, 354). Gelegentlich hat Gauss geradezu den drei kartesischen Koordinaten X, y, z die drei Einheiten 1 , t, k zugesellt und zum Beispiel die Ecken eines Ikosaeders und eines Dodekaeders durch trikomplexe Grössen x \iy -^kz dar- gestellt (Handbuch 16Bb, S. 166). Es entsteht dann die Frage, wie man mit solchen Grössen rechnen und im besonderen, wie man für sie das Produkt deli- nieren soll, (jauss hat, den Kern des Problems erfassend, schon 1819 vier- gliedrige komplexe Grössen betrachtet, die er Mutationsskalen nennt (W. VIII, S. 357 362). Ilu-e geometrische Bedeutung besteht darin, dass sie die Drehung eines Raumes in einem andern Räume verbunden mit einer Vergrösserung oder Verkleinerung ausdrücken, und Gauss ist dazu gelangt, die Multiplikation zweier solcher Grössen so zu erklären, dass das Produkt das geometrische Ergebnis zweier hintereinander ausgeführter Mutationen darstellt. Auf diese Art ist er zu einem Multiplikationsgesetz gelangt, das mit dem der Hamilton- schen Quaternionen übereinstimmt.

Weitere Ausführungen über die mehrdimensionalen Mannigfaltigkeiten bei Gauss llndet man in Nr. 33 dieses Aufsatzes.

ELEMENTARE UND ANALYTISCHE GEOMETRIE. 69

Abschnitt IV. Elementare nnd analytische Geometrie.

31.

Allgemeines.

Im ersten Abschnitt (Nr. 10) ist über verschiedene Untersuchungen von Gauss berichtet worden, die entweder unmittelbar zur elementaren Geometrie gehören oder doch eng damit zusammenhängen, bei denen aber das Axio- matische überwiegt. Auf andere Untersuchungen wurde im diitten Abschnitt hingewiesen, weil bei ihnen die Anwendung komplexer Grössen mitspielt. Für deren Gebrauch hatte Gauss eine gewisse Vorliebe, und seine Ausdehnung erstreckt sich weiter, als man zunächst glauben möchte: Gauss hat sich näm- lich lange Zeit gescheut, mit seiner geometrischen Versinnlichung des Imagi- nären öffentlich hervorzutreten, und hat deshalb seine Lösungen in einer davon befreiten Form dargestellt. Wie gern er mit dem »«« arbeitet, zeigt übrigens auch sein Ansatz für das Problem der acht Königinnen, bei dem die Felder des Schachbrettes mit den Zahlen a-\-ib [a,b = \, 2, . . ., 8) bezeichnet werden (Brief an Schumacher vom 2 7. September 1850, Br. G.-Sch. VI, S. 120.

Gauss hat es erlebt, dass den lusprünglichen, rein geometrischen Über- legungen und dem später hinzugekommenen Rechnen mit Koordinaten andere Verfahren zur Lösung geometrischer Aufgaben an die Seite traten, wie der Barj/centrische Calcul von Mobius und Grassmanns Ausdehnungslehre. Über den Wert und die Wirksamkeit solcher ^lethoden hat er sich in dem Brief an Schumacher vom 1 5. Mai 1843 mit grosser Klarheit ausgesprochen. «Über- haupt verhält es sich mit allen solchen Kalküls so, dass man duixh sie nichts leisten kann, was nicht auch ohne sie zu leisten wäre; der Vorteil ist aber der, dass, wenn ein solcher Kalkül dem innersten Wesen vielfach vorkommender Bedürfiaisse korrespondiert, jeder, der sich ihn ganz angeeignet hat, auch ohne die gleichsam unbewTissten Inspirationen des Genies, die niemand erzwingen kann, die dahin gehörigen Aufgaben lösen, ja selbst in so verwickelten Fällen gleichsam mechanisch lösen kann, wo ohne eine solche Hilfe auch das Genie ohnmächtig wird. So ist es mit der Erfindung der Buchstabenrechnung über-

70 STXcKKL, GAUSS ALS GEOMETER.

haupt: so mit der DitFerentialiechnung gewesen: so ist es auch (wenn auch in partielleren Sphären) mit Lagranges \ariationsrechnung, mit meiner Kon- gruenzrechnung und mit MöBius' Kalkül. Es werden durch solche Konzep- tionen unzählige Aufgaben, die sonst vereinzelt stehen und jedesmal neue Efforts (kleinere oder grössere) des Erfindungsgeistes erfordern, gleichsam zu einem organischen Reiche« (W. VIII, S. 298).

Die Arbeiten von Gauss, über die hier berichtet werden soll, betreffen fast den ganzen Umkreis der elementaren Geometrie, die Anfänge der analy- tischen Geometrie eingeschlossen. Eine erste Reihe bezieht sich auf die Eigen- schaften des Dreiecks, des Vierecks und der Vielecke, eine zweite auf den Kreis und die Kugel, die Kegelschnitte und die Flächen zweiter Ordnung. Dazu kommen endlich die Beiträge zur sphärischen Trigonometrie, die in einer Schlussnummer zusammengefasst sind. .

Man könnte diesen Teil des Werkes von Gauss übergehen, ohne dass sein Ruhm geschmälert würde. Allein es gilt dafür das Wort seines Schülers und Freundes Schumacher: »Deutlich genug ist des Meisters Stempel auch seinen Erholungen aufgedrückt« ').

33.

Das Dreieck.

Rein geometrisch ist der in die Lehrbücher der Elementargeometrie über- gegangene klassische Beweis für den Satz, dass die drei Höhen des Dreiecks sich in einem Punkte schneiden (W. IV, S. 396); er ist J810 in den Zusätzen veröffentlicht worden, die Gauss zu Schumachers Übersetzung der Geometrie de Position von Carnot beigesteuert hat iTeil 2, Zusatz II. S. 363) Auf einem verwandten Gedanken beruht der weniger bekannte Beweis von Naude; dieser zeigt, dass das Dreieck der Höhenfusspunkte die Höhen zu Winkelhalbierenden hat').

In denselben Zusätzen (Zusatz I, S. 359) hat Gauss mittels der Methoden der analytischeu Geometrie einen merkwürdigen Punkt des Dreiecks nach-

ii L. Carnot, Geometrie der Stellung, übersetzt von H. C. Schumacher, 2. Teil, Altona isi«, Vor- rede, S.U.

2) Ph. Naüde, Trigonoscopiae cuiusdam novae cönspectus, Miscellanea Berolinensia, t. V, I7.i7, S. lO; siehe besonders S. 17.

ELEMENTARE UND ANALYTISCHE GEOMETRIE. 71

gewiesen, von dem die Durchschnittspunkte der Höhen, der Mittelsenkrechten und der Schwerlinien besondere Fälle sind (W. IV, S. 393).

Eine handschriftliche Bemerkung zum Zusatz II lehrt, wie die genannten Durchschnittspunkte mit den komplexen Zahlen zusammenhängen, die den Ecken des Dreiecks zugeordnet sind (W. IV, S. 396). Mittels komplexer Grössen ist sicherlich auch die Lösung der Aufgabe gewonnen worden, die Lage eines Punktes aus den Verhältnissen seiner Abstände von drei der Lage nach bekannten Punkten zu finden (W. VIII, S. 303).

Endlich ist noch ein Beweis des Pythagoreischen Lehrsatzes aus dem Jahre 1797 (T. Nr. 81) zu nennen, der auf der Ähnlichkeit von Dreiecken beruht').

23.

Das Viereck.

Als Gauss die Zusätze zu Schumachers Übersetzung des ÜAENOTSchen Werkes verfasste, löste er auch eine Aufgabe, die Schumacher im Oktober 1809 gestellt hatte, als Gauss, Bessel und er selbst ihren gemeinsamen Freund Olbers in Bremen besuchten, die Aufgabe nämlich, in einem Viereck diejenige Ellipse zu beschreiben, die den grössten möglichen Flächenxaum umfasst. Schumacher hatte sie den diuch Montucla erneuerten R^creations mathematiques et phj/siques Von Ozanam Paris 1778) entnommen. Im Dezember 1809 wurde Gauss von Bessel an die Aufgabe erinnert Br. G. -Bessel S. 104). »Es ist ein merkwüi-diges Beispiel«, antwortet dieser am 7. Januar 1810, »wieviel bis- weilen von der Wahl der unbekannten Grössen abhängt. Ich setzte mich gleich daran und kam, da ich zufällig hierin eine glückliche Wahl getroffen hatte, sofort darauf, dass das ganze Problem bloss auf eine Gleichung zweiten Grades sich reduziert« Br. G. -Bessel S. 107). Die »glückliche Wahl« kam darauf hinaus, dass er komplexe Grössen verwandte; in der Darstellung der Lösung, die Gauss Schumacher mitteilte, ist dieser Ursprung zwar verhüllt worden, aber doch noch deutlich genug sichtbar geblieben.

Nachdem Gauss am H). Februar 1810 an Schumacher geschrieben hatte.

1) Ber Beweis tob Gauss ist den 96 Beweisen hinzuzufügen, die J. Versluts gesammelt hat: Zes en negentig bewijsm voor het theorema van Pythagoras, Amsterdam I9U; von den dort mitgeteilten Be- weisen kommt dem GAUSSschen am nächsten der von Brand, Une notwelle dimonstrcUion de Pythagore, Journal de mathematiques elementaires, Serie 5, t. 21, 1897, S. a«.

72 STÄCKEL, GAUSS AT.S GEOMETER.

er habe eine sehr artige Auflösung gefunden und sei nicht abgeneigt, sie be- kannt zu machen (Br. G -Sch. I, S. 26). wurde die Aufgabe, wohl auf Schu- machers Veranlassung, im Maiheft der Monatlichen Correspondenz ') den Mathe- matikern vorgelegt, und das Augustheft brachte (S. 112 121) die Lösung von Gauss (W. IV, S. 385). Im Besonderen wird darin der Lehrsatz bewiesen, dass der geometrische Ort der Mittelpunkte der Ellipsen, die die vier Seiten des Vierecks berühren, eine Gerade ist; daraus folgt als Zusatz, dass die Mitten der drei Diagonalen eines Vierseits auf einer Geraden liegen.

Das Septemberheft der Coiiespondenz enthält zwei weitere Lösungen, die von J. Fr. Pfaff und Mollweide heiTÜhren '^) ; eine vierte, von Buzengeiger eingesandte konnte wegen Mangel an Raum nicht abgedruckt werden ^). Pfaff bemerkt, dass jener geometrische Ort schon bei Newton*) und Euler ""} zu finden sei. Endlich gab Schumacher im Novemberheft ") eine Ergänzung, indem er zeigte, dass unter Umständen eine innerhalb des Vierecks liegende Ellipse, die nur drei Seiten berührt, den grössten Inhalt liefert. Die Aufgabe ist später wiederholt bearbeitet worden ; Plücker, Schläfli und Steiner haben sich um sie bemüht^).

In die Zeit um 1810 gehört auch wohl eine Aufzeichnung, die sich auf der letzten Seite des GAUssschen Exemplares des ersten Teiles der Schumacher- schen Übersetzung befindet. Carnot hatte in einer 1806 erschienenen Ab- handlimg, die Schumacher in seine Ausgabe aufgenommen hat, die zwischen den Seiten und den Diagonalen eines Vierecks bestehende Gleichung her-

1) Monatliche Correspondenz zur Beförderung der Erd- und Himmelskunde, herausgegeben von v. Zach, Bd. 21, isto, S. i6-i.

2) Monatliche Correspondenz, Bd. 22, 18Iü, S. 223 und 227.

3) A. a. O., S. 513.

4) I. Newton, Philosophiae naturalis princiina mathematiea, London t(i87, Liber I, Lemma 25; im Corollarium 3 wird auch der Satz ausgesprochen, dass die Mitten der diagonalen eines Vierseits auf einer Geraden liegen.

5) L. Euler, Introductio in analysin, T. II, Lausanne iTis, § 123.

6) Monatliche Correspondenz, Bd. 22, 1810, S. 505.

7) J. Plückee, Analytisch -geometrische Enttcieklungen, Band II, Essen iit:ti, S. 208; L. Schläfli, Anwendungen des harycenirisclien Calculs, Archiv der Mathematik und Physik, Bd. 12, I84i», S. 9si; J. Steiner, Teoremi relativi alle coniche inscritte e eircoseritte, Giomale arcadico, t. 99, S. 147, Crelles Journal, Bd. 3u, 1845, S. 17, Gesammelte Werke, Bd. II, S. 334. Ecler hat die duale Aufgabe behandelt, um ein gegebenes Viereck die kleinste Ellipse zu beschreiben, Nova acta acad. sc. Petrop. 9 (17'ji), 1795, S. 132; vorgelegt den 4. Sept 1777.

ELEMENTARE UND ANALYTISCHE GEOMETRIE. 73

geleitet (2. Teil, S. 2 5S\ und Gauss gibt einen einfachen Beweis dieser für die Ausgleicliungsrechnungen der Geodäsie \vichtigen Beziehung (W. IX, S. 248).

Mit den geodätischen Messungen, die Gauss von 1821 bis 1825 anstellte, hängt es auch zusammen, dass er sich eingehend mit einer Aufgabe beschäftigt hat, die nach einem Mathematiker, der weder ihr Urheber noch ihr erster Löser ist, der sich aber Verdienste um sie erworben hat, häufig als Pothenot- sches Problem bezeichnet wii-d*). Es handelt sich darum, bei einer trigono- metrischen Aufnahme die Lage eines Punktes dadurch festzulegen, dass die AVinkel gemessen werden, welche die von ihm nach drei bekannten Punkten Xetzpunkteu; gehenden Richtungen miteinander bilden i Rückwärtseinschneiden;. Die im Xachlass von Gauss befindlichen umfangreichen Aufzeichnungen über das PoTHENOTSche Problem aus den Jahren 1832 bis 1852 werden ergänzt durch Briefe an Gerling und Schumacher aus den Jahren 1830 bis 1842 imd durch die Ausarbeitung einer im Jahre 1840 gehaltenen Vorlesung über die Theorie der imaginären Grossen W. VIII, S. 307 334.

Die Heranziehung der komplexen Grössen erweist sich hier als besonders nützlich. Indem Gauss den Ecken üq, a,, 0-2, a^ des Vierecks, das aus dem festzulegenden Punkt imd den drei Netzpunkten besteht, das Dreieck zuordnet, dessen Ecken diuxh die aus der Lehre von den biquadratischen Gleichungen wohlbekannten Verbindungen

bestimmt werden, gelangt er zu seiner »zierlichen Auflösung<(: zu demselben Dreieck war übrigens schon Collins durch einen geometrischen Kunstgriff gelangt*'.

Gauss eigentümlich ist die Frage nach der »physischen Möglichkeit der Daten in Pothenots Aufgabe«. Wenn nämlich beim Rückwärtseinschneideu der Punkt gesucht wird, von dem aus zwei gegebene, aneinander stossende Strecken unter gemessenen Winkeln erscheinen, so ist man sicher, dass die

1) L. PoTHEXOT, Probleme de Geometrie pratique, M§m. de lAcad. depuis ibbü jusqu'ä 16'jm, t. m. Paris 1730, S. 15U (vorgelegt 1692. Für das Geschichtliche vgl. die Dissertation von R. W.\gnek, Über das Pothenotsche Problem, Göttingen issj und die Angaben in J. C. Poggkndorffs Biographisch -literari- schem Ilandwörterbuch, II, Leipzig 1863, Spalte .^O'.i.

2) J. COLLIXS, Ä Solution of a chorographical problem, Philosophical transactions. Vol. 6. Nr. ca, London, März 167 1.

X2 Abh. 4. 10

74 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

Aufgabe, sobald nur der gefahrliche Kieis vermieden wird, eine bestimmte Lösung hat. Anders steht es, wenn jene Winkel willkürlich angenommen werden. Dann braucht es keine Lösung zu geben, und es entsteht die Frage nach einem Kennzeichen für die Lösbarkeit; Gauss hat darauf eine über- raschend einfache Antwort gegeben.

Warum, wird man fragen, hat Gauss auf (^incn so elementaren Gegen- stand so viel Zeit und Mühe verwendet? Aufschluss hierüber gibt der Brief an Gerling vom 14. Januar 1842. Nachdem er diesem das Kennzeichen mit- geteilt hat, bittet er ihn, es für sich zu behalten, «weil ich das Theorem, womit es zusammenhängt, selbst einmal bei schicklicher Gelegenheit zu be- handeln mir vorbehalte, weniger wegen der Eleganz des Theorems an sich, als wegen der Eleganz, welche die Anwendung der komplexen Grössen dabei darbietet, also namentlich bei einer Gelegenheit, wo ich mehr von dem Ge- brauch der komplexen Grössen sagen kann» W. VIII, S. 315) ').

34.

Die Vielecke.

Durch eine Anfrage von Schumacher vom 19. März 1836 veranlasst ,W. X 1, S. 459} hat sich Gauss mit der Frage nach dem «kürzesten Ver- bindungssvstem« von beliebig vielen, im Besonderen von vier Punkten be- schäftigt W. Xi, S. 461 467, einer glücklichen Verallgemeinerung der Summe der Entfernungen eines Punktes von gewissen gegebenen Punkten, die noch heute eingehendere Erforschung verdiente"*).

Die Lösung der Aufgabe, in einen gegebenen Kreis ein Vieleck zu be- schreiben, dessen Seiten durch je einen gegebenen Punkt gehen, ist wieder der Verwendung komplexer Grössen entsprungen (W. IV, S. 398, Zusatz V, S. 369).

Im ersten Abschnitt (Nr. 10) ist bemerkt worden, dass Gauss die trage au%eworfen hat, was man unter dem Inhalt eines beliebigen Vielecks zu ver-

1 Für die Behandlung geometrischer Aufgaben mittels komplexer Grossen \g\. noch die Dissertation von H. ZUB Nedden, Applicalio numeri complexi ad demmstranda itonnuUa geometriae theoremata, Göt- tingen 1840.

J) Vgl. auch die Dissertation von K. Bopp, Das kürzeste Verbindungssystem von vier Punkten, Göttingen is;».

ELEMENTARE UND ANALYTISCHE GEOMETRIE. 75

stehen habe. Aiif den Inhalt eines ^ ielecks bezieht sich die folgende Stelle in dem Zusatz I zu SchuMACHERs Übersetzung der Geometrie de position von Carnot') [S. 362):

Anmerkung des Herausgebers iSchumacher". »Es ist, nach einem schönen Theorem des HeiTn Professor Gauss, der Inhalt eines Vielecks von n Seiten, wenn die Koordinaten der Winkelpunkte nach der Reihe in einer Richtung gezählt:

x,i/; x\\f': ... ^<''-'',j/'»-'' sind,

worüber Er selbst vielleicht, bey einer andern Gelegenheit, uns eine voll- stcändigere Abhandlung schenken wird".

Die Ankündigung, einer vollständigeren Abhandlung macht es wahrschein- lich, dass Gauss schon damals die Verallgemeinenmg auf beliebige Vielecke im Auge hatte, bei denen also der umfang sich selbst durchsetzen kann, wie er sie in dem Brief an Olbers vom :>0. Oktober 1825 andeutet W. VITI. S. 398)'. In einer aus dem Nachlass 1866 herausgegebenen Abhandlung hat Jacobi eine Regel für die Bestimmung des Inhalts gegeben').

In der Behaftung von Inhalten mit Vorzeichen ist Möbius mit Gauss zusammengetrolFen, zuerst im Barycentnschen Calcul 1827V*,. dann in der Ab- handlung über den Inhalt der Polyeder 1865)'). Wenn die Mathematiker des 20. Jahrhunderts diese Dinae als selbstverständlich ansehen, so hat doch

1) Werke XI i.

2) In dem Brief an Olbers vom 3 o. Oktober 1S25 bemerkt G.\iss, er habe «erst vor kurzem eine Abhandlung von Meister im ersten Bande der Novi Commentarii Gotting. kennen gelernt, worin die Sache fast ganz auf gleiche Art betrachtet und sehr schön entwickelt wird« : gemeint ist die Abhandlung von A. I-. F. Meister. Generalia de genesi figtiramm platiarum et inde pendentibus earum affectionibus, No^■i Commentarii acad. Gotting., vol. I ad annos 1769/70, 1771, S. 144.

3) C. G. J. Jacobi, Begel zur Bestimmtaig des Inhalts der Stempolygone, Journal für die r. u. a. Mathematik Bd. 65, 1886, S. 173, Werke VII, S. 40; vgl. auch AV. Veltm.wx, Berechnung des Inltalts eines Vielecks aus den Coordinaten der Eckpunkte, Zeitschrift für Mathematik und Physik, Bd. 32, 1SS7, S. 339. Nach L. Kösigsberger, C. G. J. Jacobi, Leipzig i!)04, S. iss hat J.4Cobi seine Regel im Sommer tS3S gefunden.

4) A. F. MöBlcs, Der barycentrische Calcul, Leipzig 182 7, Kap. 11, S 17 und iv; AVerke I, S. 39—4 1.

5) A. F. MÖBITJS, Über die Bestimmung des Inhaltes eines Polyeders, Leipziger Berichte, Bd. 17, 1SK5, S. 3 1, Werki- 11, S. 4S5— 4itl.

10*

76 StäCKEI., GAUSS ALS GEOMETER.

Baltzer. in den Erinnerungen an die GAUssschen Zeiten wiu'zelnd, mit Recht hervorgehoben, dass die Bestimmung des Zeichens einer Strecke nach der voraus bestimmten positiven Richtung einer Geraden, einer Dreiecksfläche nach dem voraus bestimmten positiven Sinn ihrer Ebene und eines Tetraeder- inhalts nach einem voraus bestimmten Schraubungssinn beim Erscheinen des Barycentrischen Calculs »neu und fast befremdend« erschienen seien').

Gauss hat auch eine von jNIöbius gestellte Aufgabe" gelöst, die besagt, man solle den Inhalt eines Fünfecks aus den Inhalten der fünf Dreiecke be- stimmen, die von den Verbindungsstrecken der fünf Eckpunkte gebildet werden W. IV. S. 406).

35.

Der Kreis und die Kugel.

Das Tagebuch von Gauss beginnt mit der Eintragung vom 30. März 1796: »Principia quibus innititur sectio circuli, ac divisibilitas eiusdem geometrica in septemdecim partes etc. Nach dem Briefe an Gerling vom 6. Januar 1819 hatte er die Entdeckung am Morgen des 29. März 1796 gemacht (W. Xi, S. 125'!. »Sie ist es vornehmlich gewesen, welche seinem Leben eine be- stimmte Richtung gab, denn von jenem Tage an war er fest entschlossen, nur der Mathematik sein Leben zu widmen« Sartorius, S. 16). Die Kon- struktion des regelmässigen Siebzehnecks ist geometrisch ausfuhrbar, insofern sie sich allein durch Lineal und Zirkel bewerkstelligen lässt. jedoch beruht der Beweis bei all' den verschiedenen Durchführungen auf der algebraisclien Grundlage der Kreisteilungsgleichung'). Gauss hat in den Göttinger Anzeigen vom 19. Dezember 1S2 5 eine Konstruktion von Erchinger mitgeteilt. Für diese Konstruktion habe Erchusger eine rein geometrische Begründung ge- geben, »mit musterhafter, mühsamer Sorgfalt, alles nicht rein Elementarisch(> zu vermeiden« W. II, S. 187). Sie ist uns leider verloren gegangen, da Er- chingers Abhandlung nicht gedi'uckt wurde*.

1) R. B.\LTZEK, Vorrede über Möbius, Möbiis' Werke I, S. VIII.

2) A, F. MöBas, Beobachtungen auf der Sternwarte sii Leipzig usw., Leipzig i < j:;, S. 57 ; Werke I, S. :vj i. :t; Vgl. R. GoLDESKLNG, Die elementargeometrischen Konstruktionen des regelmässigen Siebzehnecks,

Dissertation, Jena I9i.s. Die zeitlich älteste Konstriiktion ist die dort noch nicht erwähnte von Pfleiderer, die erst 1'j17 (Werke Xi, S. 120; veröffentlicht worden ist.

ii Die Abhandlung Ebchingers hatte Gauss von einem Braunschweiger Bekannten, dem Juristen

ELEMENTARE UND ANALYTISCHE GEOMETRIE. 77

In dem Zusatz VI zu Carnots Geometrie der Stellung (2. Teil, S. 371, W. IV, S. 399j wird eine analytische Lösung der Aufgabe gegeben, einen Kreis zu beschreiben, der drei der Grösse und Lage nach gegebene Kreise berührt, »vielleicht die einfachste Konstruktion des Apollonischen Problems«, wie Simon sagt ' ; sie ist wiederum der Benutzung komplexer Grössen zu ver- danken.

Um das Jahr 184u hat Gauss den Begriff der harmonischen Punktepaare auf einer Geraden verallgemeinert, indem er die vier Abszissen als komplexe Grössen auffasst, denen Punkte einer Ebene zugeordnet sind W. VIU, S. 336 337). Hierin liegt ein fruchtbares Cbertragungsprinzip , das Möbius, hier wiederum mit Gauss zusammentreffend, ausgebaut hat"). Später ist Möbius zum allgemeinen Doppelverhältnis übergegangen und zu seiner Lehre von der Kreisverwandtschaft gelangt, bei der zwischen zwei Ebenen durch eine bilineare Gleichung in den lagebestimmenden komplexen Grössen eine Beziehung her- gestellt wird^.

Auch den Punkten einer Kugelfläche hat Gauss schon sehr früh komplexe Grössen zugeordnet, vermutlich mittels der stereographischen Projektion; dies zeigt die schon angeführte Bemerkung über das elliptische Integral erster Gattung aus dem Jahre 1800 W. X i, S. 546. In einer späteren Aufzeich-

E. SCH3l.^DER in Tübingen, am i. Sept. 18 25 zugesandt erhalten. Hiemach war Erchixgek, der sonst ganz unbekannt ist, ein mathematischer Autodidakt, der etwa seit 1813 in Tübingen lebte. Er hatte einen Bei- trag geliefert zu der Abhandlung ScHRADERs : Commentatio de sutnmatione seriei

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Weimar isi>, die einen Preis der Kopenhagener Gesellschaft der Wissenschaften erhalten hatte. Nach ScHRADERs Brief an G.wss vom 20. April issi war Erchixger inzwischen gestorben (Briefe im Gauss- Archiv). Vgl. auch KhiSGELs Mathematisches Wörterbuch, IV. Teil, Leipzig 1823, S. 652 (Artikel Summierung der Reihen;.

1) M. Simon, Über die Entwicklung der ElemerUargeometrie im XIX. Juhrhutuiert, 1. Ergänzungs- band des Jahresberichtes der Deutschen Mathematiker - Vereinigung, Leipzig 1906, S. 98; man findet hier ;S. 97 105) eine Zusammenstellung der umfangreichen Literatur über das Apollonische Taktionsproblem.

2; A. F. MÖBIUS, Über eine Methode, um von Relationen, welche der Longimeirie angehören, zu den entsjtrechenden Sätzen der Planimetrie zu gelangen, Leipziger Berichte, Bd. 4, 1S52, S. 41. AA'erke II, S. isa.

3) A. F. MÖBIUS, Über eine neue Verwandtschaft zicischen ebenen Figuren, Leipziger Berichte, Bd. 5, 1S53, S. 14, Werke II, S. 205; später hat MÖBILS die Kreisverwandtschaft rein geometrisch begründet: Die Theorie der Kreisverwandtschaft in rein geometrischer Darstellung, Leipziger Abhandlungen, Bd. 4, isss, S. 52!) ; Werke II, S. 243.

78 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

nung:, die vor I S 1 V) niedergeschrieben ist, hat er den durch die stereographische Projektion vermittelten Zusammenhang zwischen Ebene und Kugel genauer untersucht und dabei erkannt, dass die »Drehungen der Kugelfiäche in sich selbst« durch gewisse lineare, gebrochene Substitutionen der lagebestimmenden komplexen Grösse dargestellt werden können (W. VITI, S. 85 1 ;556); man kennt die Bedeutung, die diese Substitutionen später gewonnen haben').

36.

Kegelschnitte und Flächen zweiter Ordnung.

Auf die Lehre von den Kegelschnitten ist Gauss als Astronom immer wieder geführt worden. Besonders eifrig hat er sich damit im Frühjahr 1843 beschäftigt. In dem Briefe an Schumacher vom 12, Mai 184:5 erzählt er, dass er »anfangs durch zufällige Umstände« seit vier bis sechs Wochen in einige mathematische Spekulationen hineingezogen worden sei, »wo ich immer wieder dxu'ch neue Aussichten in andere Richtungen gelenkt wurde und vieles erreicht, vieles verfehlt habe. . . . Jene Spekulationen betrafen grossenteils weniger neue Sachen als Durchführung mir eigentümlicher Methoden: zuletzt u. a. mehreres sich auf die Kegelschnitte Beziehendes. Mir ist dabei wiederholt in Erinnerung gekommen, wie ich vor einem halben Jahrhundert, als ich zuerst Newtons Principia las '"), mehreres unbefriedigend fand, namentlich seine an sich herrlichen Sätze die Kegelschnitte betreffend. Aber ich las immer mit dem Gefühl, dass ich durch das Erlernte nicht Herr der Sache wurde; besonders quälte mich die gerade Linie, mit deren Hilfe ein Kegelschnitt beschrieben werden kann'). . . . Herr des Gegenstandes ist man doch erst dann, wenn man alle andern, diese magische gerade Linie betreffenden Fragen beantworten kann; namentlich will man wissen, welche Relationen diese gerade

1) Vgl. für die von Riemann benutzte Verwendung der Kugel zur Uarstellung komplexer Grössen C. NeüMANN, Vorlesungen über EievKoms Theorie der Abcischen Integrale, Leipzig 1S65, für die linearen Sub- stitutionen F. Klein, Vorlesungen über das Ikosaeder, Leipzig 1884, erster Abschnitt, Kapitel IL

2) Gauss hat sein Exemplar der Principia im Jahre 1794 erworben.

:!j Es handelt sich um die Konstmktion eines Kegelschnitts mittels zweier um ihre Scheitelpunkte drehbarer Winkel, deren eines Schenkelpaar sich auf einer Geraden schneidet, während der Durchschnitts- punkt des anderen Schenkelpaares den Kegelschnitt beschreibt, L Newton, Philosophiae naturalis principia mathemalica, London 1087, Liber l, Sectio 5, Lemma 21. Vgl. auch C. Maclaurin, Geometria organica, sive descriptio linearum curvartim universalis, London I72n, erster Abschnitt.

ELEMENTARE UND ANALYTISCHE GEOMETRIE. 79

Linie zu den Elementen des Kegelschnittes habe, ob man diese Elemente selbst mit Leichtigkeit aus der Lage jener geraden Linie und der [gegebenen Punkte des Kegelschnittes] ableiten könne. Verschiedenes dieser Art kann ich jetzt recht artig ausrichten, ich weiss aber nicht, ob ich selbst das Ganze durch- führen kann, da andere Geschäfte mich nötigen abzubrechen« (W. VLEI, S. 295).

Was Gauss damals über seine Spekulationen niedergeschrieben hat, ist aus dem Nachlass W. VIII, S. 341 344 abgediaickt. Die ihm eigentümliche Methode war wieder die Benutzung komplexer Grössen; mittels dieses Ver- fahrens hatte er schon etwa seit 1831 begonnen, die Kegelschnitte zu be- handeln (W. Vm. S. 339 340).

Gauss hat die abgebrochene Arbeit nicht wieder aufgenommen, nicht aus Mangel an Zeit, sondern weil ihm zufällig ein Buch in die Hände hei, worin, wie er am 15. Mai 1843 an Schumacher schreibt, »die Quintessenz der Lehre von den Kegelschnitten in nucem gebracht ist«. Es war der schon 1S27 er- schienene Barycentrische Calcul von Mobius, ein Buch, das er, als es ihm 1828 vom Verfasser zugegangen war, »ohne viele Erwartung davon zu haben, zunächst auf die Seite gelegt und später völlig vergessen hatte«, das aber, wie er jetzt »mit grossem Vergnügen« fand, »auf dem leichtesten Wege ziu' Auflösung aller dahin gehörigen Aufgaben führt« fW. VIII. S. 297 '.

Dass Gauss sich in das Buch von Möbius vertieft hat, bezeugen auch die aus dem Nachlass abgediuckten Notizen über das PentagTamma miriticum Fragment [ll\ W. VUI, S. 109—111) und über den llesultantencalcul (W. Vin, S. 298).

Wenn Gauss im Baiycentrischen Calcul die Quintessenz der Lehre von den Kegelschnitten erblickt hat, so wird man daraus schliessen düi'fen, dass ihm die Untersuchungen Poncelets, Steiners und Plückers fremd geblieben waren. Um seine Stellung zur neueren Geometrie zu bezeichnen, genügt es daher nicht zu sagen, er habe die analytischen Methoden bevorzugt, man muss vielmehr hinzufugen, dass er kein inneres Verhältnis zu den Auffassungen gewonnen hat, die der projektiven Geometrie eigentümlich sind.

Ebenfalls in das Jahr 1843 sind Auszüge zu setzen, die sich Gauss aus zwei in den Pariser Comptes rendus vom 24. April 1843 erschienenen Noten

1) Vgl. auch den Brief an ScHUM.^CHER vom l'i. Mai 1843, Br. G.-ScH. IV, S. i5i.

80 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

Cauchys gemacht hat. Sie stehen teils auf einer Notiztafel, die Gauss im April 1840 von Schumacher zum Geschenk erhalten hatte (Br. G.-Sch. III, S. 369) und die sich gegenwärtig im Besitz seines Enkels, Herrn C. Gauss in Hameln, betindet, teils in dem Handbuch 19Be, S. 254 257; auch die Notiz über die Kreisschnitte, ebenda S. 253, hängt damit zusammen. Diese Auszüge verdienen um so mehr Beachtung, als die im Nachlass vorhandenen Notizen über Abhandlungen, die Gauss gelesen hatte, lediglich aus der Göttinger Studienzeit (1795 17981 stammen; aus der späteren Zeit .sind uns jedenfalls keine Aufzeichnungen dieser Art erhalten, und auch in den Handbüchern fehlen sie, abgesehen von dem soeben erwähnten Ausnahmefall. Gauss muss also in den Sätzen von Cauchy etwas Besonderes gefunden haben, vielleicht Berührungspunkte mit eigenen Untersuchungen.

In der ersten Note') betrachtet Cauchy eine ganze rationale Funktion der rechtwinkligen Koordinaten eines Punktes der Ebene und zeigt, dass mau ihren Werten eine einfache geometrische Bedeutung beilegen kann; liicrvon werden Anwendungen auf die Kegelschnitte gemaclit.

Die zweite Note') enthält eine analytische Lösung der Aufgabe von Amyot, eine Fläche zweiter Ordnung als geometrischen Ort der Punkte darzustellen, bei denen das Produkt der Entfernungen von zwei festen Ebenen zu dem Quadrat der Entfernung von einem festen Punkte in einem gegebenen Ver- hältnis steht*). Cauchy zeigt, dass die Aufgabe, abgesehen von der Aus- ziehung gewisser Quadratwurzeln, auf eine Gleichung dritten Grades führt, die mit der bekannten Gleichung für die reziproken Quadrate der Haupt- achsen übereinstimmt, ein Ergebnis, das man bei Heranziehung der Kreis- schnitte leicht bestätigen wird.

Zu der Gleichung dritten Grades bemerkt Gauss : »Dies Resultat ist ganz identisch mit meinem eigenen, vor 24 Jahren publizierten, was auch auf einem

t) A. L. CaüCHY, Memoire sur la synthese algehrique, Comptes rciidus, t. in, Paris ih4:), S. 867, Oeuvres, l. sferie, t. 7, Paris 1892, S. 382.

2) A. L. Cauchy, Notes annexees au Rapport sur le Memoire de M. Amyot, Comptes reiulus, ebenda, S. 88 5, Oeuvres, ebenda, S. 3 7 7.

3) Ein ausführlicher Bericht über die der Pariser .\kadsmie eingereichte Abhandlung Amyots : Nou- velle mithode de generation et de discussion des surfaces du second ordre von Cauchy steht Comptes rendus ebenda, S. 783, Oeu^Tee, ebenda, S. 325; die Abhandlung Amyots ist abgedruckt in Liouvilles Journal, 2. a^rie, t. s, 1843, S. i63.

ELEMENTARE UND ANALYTISCHE GEOMETRIE. 81

besonderen Blatte steht«, und fügt die Buchstabenvertauschung hinzu, die Cauchys Gleichung in die seinige überführe. Die Abhandlung, auf die er sich bezieht, ist die 1818 erschienene Determinatio attractionis, quam . . . exer- ceret planeta . . ., und zwar handelt es sich um die Formel [3] (W. III, S. 341 . Das besondere Blatt ist die Seite 114 des Handbuchs 1 9 Be ; es enthält die kubische Gleichung für die reziproken Quadrate der Hauptachsen genau in der von Gauss angegebenen Bezeichnung. Damit stimmt, dass eine Notiz auf S. 103 des Handbuchs das Datum des 20. Februar 1817 trägt. In anderer Bezeichnungsweise findet sich die kubische Gleichung auf S. 166 desselben Handbuches; diese etwa aus dem. Jahre 1831 stammende Notiz ist W. II, S. 307 abgedruckt. In geschichtlicher Beziehung sei noch bemerkt, dass die kubische Gleichung schon 1812 von Hachette und Petit ') angegeben war und dass Cauchy sie 1826 abgeleitet hatte").

37.

Sphärische Trigonometrie.

De Gua^ und Lagrange*) hatten gezeigt, dass die Kosinusformel zum Aufbau der ganzen sphärischen Trigonometrie ausreicht; ihre Ableitungen gelten indessen nur für Bogen, die nicht grösser als 90" sind. In dem Zusatz VII (1810) zu Carnots Geometrie der Stellung (2. Teil, S. 373, W. IV, S. 401) hat Gauss diese Lücke ausgefüllt und Bogen bis zu 180" zugelassen, wie sie in der Praxis tatsächlich vorkommen). Aber schon in der Theoria motus cor- porum coelestiwri, die 1809 erschienen war, hatte er im Art. 54 auf die allge- meinste Auffassung des sphärischen Dreiecks hingewiesen, bei der weder Seiten noch Winkel irgend welchen Beschränkungen unterworfen seien; die ausführ- lichere Darstellung, die er in Aussicht stellte, ist aber weder veröffentlicht

1) Hachette und Petit, De requation qui a pour racines les earres des demiaxes principattx d'une surface du second ordre, Correspondance sur l'ecole polytechnique, t. 2, isrj, S. ■.i24, 327.

2) A. L. Cauchy, Legons sur les applications du calcul infinitesimal ä la geometrie, t. I, Paris t82G, S. 240; Oeuvres, 2. s6ri'e, t. 5, S. 250.

3) J. P. DE GuA, Trigmiometrie spherique, M^m. de l'Acad., annie nsa, Paris i7sb. S. 29i.

i] J. L. Lagrange, Solution de quelques problemes relatifs atix triangles »pheriques, Journal de l'ecole polytechnique, cahier 6. ITiis, S. 271], Oeuvres, t. 7, S. :i29.

5) Für die rechtwinkligen Dreiecke hatte schon KlÜGEL diese Erweiterung vorgenommen, Amdytische Trigonometrie, Braunschweig i7 7o.

X 2 Abh. 4. 1 1

82 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

worden, noch hat sich im Nachlass etwas darüber gefunden. Später hat MüBiüs, auch hier in den Spuren von Gauss wandelnd, die Untersuchung für Bogen und Winkel diuchgeführt, die bis :i60'^ reichen', zur vollen Allgemein- heit ist aber erst Study (1893) gelangt*).

Die ^^er Fundamentalformeln der sphärischen Trigonometrie lauten in der Gestalt, die Gauss sich zu seinem Gebrauch aufgezeichnet hatte und die er für die angemessenste hielt (Brief an Schumacher vom 26. September 1844, Br. G.-ScH., IV, S. 310^

cos a = cos b cos c -\- sin b sin c cos A, sin a sin i? = sin b sin A, cos A cos f = cotang b sin c cotang B sin A,

cos A = cos B cos C -\- sin B sin C cos a.

Sie sind nebst den zugehörigen, ebenfalls von Gauss angegebenen Diff'erential- formeln in die Sammlung von Hülfstafeln aufgenommen worden, die Warns- TORFF 184 5 als neue Ausgabe der von Schumacher 1822 veröffentlichten Tafeln herausgegeben hat* . Man findet hier auch eine Anweisung, die dritte Formel dem Gedächtnis einzuprägen, die Gauss, wie Wittstein berichtet*), seinen Zuhörern mitzuteilen pflegte.

Im Art. 54 der Theoria motus (1 809) hatte Gauss ohne Beweis vier Glei- chungen zwischen den sechs Stücken eines siihärischen Dreiecks angegeben, die er als nützlich für die Auflösung eines solchen Dreiecks bezeichnete, wenn eine Seite und die anliegenden AVinkel gegeben sind. Gefunden hatte er diese Gleichungen, wie es scheint, auf dem Umwege von Betrachtungen über die Frage, wie man die Gleichungen zwischen den Stücken eines sjihärischen Dreiecks auf Gleichungen zwischen den Stücken eines ebenen Dreiecks zurück-

1) A. F. MöBres, Über eine neue Behandlungsweise der analytischen Sphärik, Abhandlungen bei Begründung der Königl. Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften, heravisgegeben von der JABLONowsKischen Gesellschaft d. W., Leipzig I84f., S. 45, Werke II, S. i.

2) E. Study, Sphärische Trigonometrie, orthogonale Substitutionen und elliptische Funktionen, I^eip- ziger Abhandlungen, Bd. 2i, 189 3.

■■<. G. H. L. Warnstorkk, Sammlung von Hülfstafeln, Altona 1845, S. i;t2. Die Formeln werden dort nicht ausdrücklich als ron Gauss herrührend bezeichnet, während das bei den anderen Beiträgen von Gauss geschehen ist, z. B. bei den Tafeln für barometrisches Höhenmessen; vgl. W. IX, S. 456.

4) Tu. Wittstein, Lehrbuch der Elementar-Mathematik, 2. Band, 2. Abteihing, Hannover 18«2, S. 14 6 : die betreffende Stelle ist abgedruckt W. X i, S. 457.

ELEMENTARE UND ANALYTISCHE GEOMETRIE. 83

führen könne W. IV, S. 404). Später hat er in dem Brief an Gerling vom 18. Februar )SI5 eine einfache Herleitung gegeben (W. VIII, S. 289); dabei findet man zugleich die richtigen Vorzeichen der linken Seiten, die, wie Gauss bereits in der Theoria motus bemerkt hatte, bei Ausdehnung der Stücke über ISO" besonders bestimmt werden müssen.

Delambre bat in der ausführlichen Besprechung der Theoria motus, die er in der Connaissance des temps pour Tan J">12, Paris, juillet 1810, ver- ötFentlicht hat, darauf hingewiesen (S. 451, dass er jene Formeln schon im Jahre 1807 bekannt gemacht habe'\ Er fügt hinzu: »Quand j'eus trouve ces formules, j'en cherchai des applications qui pouvaient etre vraiment utiles; n'en voyant aucune je les donnai simplement comme curieuses«, und wieder- holt di'eimal, dass er ihnen die XEPERschen Analogien vorziehe S. 364, 370, .18 5). Eine Erfahrung von mehr als hundert Jahren hat gezeigt, dass die »ÜELAMBRESchen Gleichungen« für- die Auflösung der sphärischen Dreiecke wahrhaft nützlich sind""»; im Besonderen werden sie in der Geodäsie bei der Berechnung der SoLONERschen rechtwinklig -sphärischen Koordinaten ange- wandt*).

Füi- den Legen DREschen Satz von der Zurückfühnmg eines kleinen sphä- rischen Dreiecks auf ein ebenes Dreieck mit eben so langen Seiten sei auf den fünften Abschnitt dieses Aufsatzes i^Nr. 30) verwiesen. Hier möge nur noch die zierliche Lösung der Aufgabe erwähnt werden, den Ort der Spitze eines sphäi-ischen Dreiecks auf gegebener Grundseite und mit gegebenem Inhalt zu finden, die Gauss in dem Briefe an Schumacher vom 6. Januar 184 2 entwickelt hat (W. VIII, S. 293). Sie gehört in die Zeit der ).geometrischen Nachblüte«, aus der die Mehrzahl der Untersuchungen herrührt, über die in diesem Abschnitt berichtet worden ist.

1) Connaissance des temps pour Van iso'j, Paris avril 1807, S. 445. Auch Delambre hat die For- meln ohne Beweis mitgeteilt. Ein Beweis ist zuerst von K. B. Mollweide gegeben worden, der die For- meln selbständig gefunden hat, Zusätse zur ebenen und sphärischen Trigonometrie, Monatliche Correspondenz. Bd. 18, 1808, S. 394.

2, Vgl. E. H.iMMEE, Lehr- und Handbuch der ebenen und spMrischeti Trigonometrie, 4. Aufl., Stutt- gart lal6, S. 47'J, 4SI.

3; Vgl. W. JoRDAS, Handbuch der Vermessungskunde, Bd. III, 4. .\ufl., Stuttgart isSd, S. 259.

11*

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Abschnitt V. Die allgemeine Lehre von den krummen Flächen.

38. Entwicklung der Grundgedanken bis zum Jahre 1816.

Ähnlich wie im 17. .Jahrhundert aus den Bedürfnissen der Mechanik die Inhnitesimalrechnung hervorgegangen ist, verdankt im 19. Jahrhundert die allgemeine Lehre von den krummen Flächen ihre Entstehung der Geodäsie. In beiden Fällen hat sich aus der angewandten Mathematik ein neuer, lebens- fähiger Zweig der reinen Mathematik losgelöst, hat ein selbständiges Dasein gewonnen und sich zu einem ausgedehnten, reich gegliederten Inbegriff theo- retischer Untersuchungen ausgestaltet.

Die Frage nach der Gestalt und der Grösse der Erde hatte die Astro- nomen, Physiker und Mathematiker während des 18. Jahrhunderts lebhaft be- schäftigt, ja die gi'ossen Gradmessungen in Lappland (1736 1737) und Peru (1735—1741) hatten die Aufmerksamkeit aller Gebildeten erregt. Handelte es sich hier um einen rein wissenschaftlichen Gegenstand, so gewann die Geodäsie bald auch praktische Wichtigkeit. Die Einführung des metrischen Systems veranlasste die Gradmessung von Mechain und Delambre zwischen Dünkirchen und Barcelona (1792 1798). Dazu kamen die Anforderungen der Heeresführung und der Steuerverwaltung, die eine planmässige Triangu- lierung der Staaten nötig machten. Hand in Hand mit der Ausdehnung der geodätischen Messungen ging die Ausbildung und Verfeinerung der mathe- matischen Hilfsmittel.

Im Jahre 1816 hatte Schumacher, seit 1815 Leiter der Sternwarte zu Altona, vom König Friedrich VI. von Dänemark den Auftrag erhalten, Grad- messungen im Meridian von Skagen bis Lauenburg und im Parallel von Kopenhagen bis zur Westküste Jütlands als Grundlage für eine spätere Tri- angulierung auszuführen. Als Schumacher sogleich bei Gauss anfragte, ob es sich ermöglichen Hesse, den Meridianbogen durch das Königreich Hannover fortzusetzen und so den Anschluss au die Dreiecke des preussischen General-

DIE ALLGEMEINE LEHRE VON DEN KRUMMEN FLÄCHEN. 85

Stabs zu gewinnen, antwortete dieser am 5. Juli 1816 mit einer bei ihm unge- wöhnlichen Wärme des Tones :

»Vor allen Dingen meinen herzlichen Glückwunsch zu der herrlichen, grossen Unternehmung, die Sie mir in Ihrem letzten Briefe ankündigen. Diese Gradmessung in den k. dänischen Staaten wird uns, an sich schon, über die Gestalt der Erde schöne Aufschlüsse geben. Ich zweifle indessen gar nicht, dass es in Zukunft möglich zu machen sein wird, Ihre Messungen durch das Königreich Hannover südlich fortzusetzen. . . . Über die Art, die gemessenen Dreiecke im Kalkül zu behandeln, habe ich mir eine Methode entworfen, die aber für einen Brief viel zu weitläufig würde. In Zukunft . . . werde ich mit Ihnen darüber ausführlich konferieren: ja ich erbiete mich, die Berechnung der Hauptdreiecke selbst auf mich zu nehmen« (W. IX, S. 345).

Dass Gauss Freude an geodätischen Messungen und Rechnungen hatte, lässt sich bis in die Frühzeit hinein verfolgen. Zum Beispiel beteiligte er sich im August und September 180 3 an den Beobachtungen der Pulversignale, die V. Zach auf dem Brocken veranstaltete, und lieferte um dieselbe Zeit Berechnungen für die von dem preussischen Generalmajor v. Lecoq vorge- nommene trigonometrische Aufnahme Westfalens ').

Als Gauss im September 1812 v. Zach auf der Sternwarte Seeberg bei Gotha besuchte, fand er (T. Nr. 142) seine Auflösung der Aufgabe, die An- ziehung eines elliptischen Sphäroids zu bestimmen, die er 1813 veröffentlicht hat (W. V, S. 1). In der Selbstanzeige sagt er, die Auflösung sei so aus- führlich dargestellt, um sie »auch weniger geübten Lesern verständlich zu machen, denen diese für die Gestalt der Erde so interessanten Untersuchungen bisher ganz unzugänglich waren« (W V, S. 2 1 7).

Dass Gauss sich in der Zeit zwischen 1812 und 1816 mit der Lehre von den kürzesten Linien auf dem elliptischen Sphäroid beschäftigt hat, zeigt schon der vorhin angeführte Brief an Schumacher vom 5. Juli 1816. Dazu kommen die Briefe an Olijers vom 13. Januar 1821 (W. IX, S. 367) und an Bessel vom 11. März 1821 und 15. November 1822 (Br. G.-Bessel, S. 380 und 410), in denen er bemerkt, er habe seine Theorie der Behandlung der Messungen

1) Näheres hierüber findet man in dem Aufsati von A. Galle über die geodätischen Arbeiten von Gauss, Werke XI a, Abh. 3.

86 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

auf der Oberfläche der Erde schon seit geraumer Zeit entwickelt; seine An- deutungen lassen erkennen, dass er damit das in den artt. 1 1 und 1 6 der Untersuchunyen über Gegenstände der höheren Geodäsie (W. IV, S. 274 und 286) dargelegte Verfahren meinte. Auch erklärt er in der Selbstanzeige der zweiten Abhandlung über Gegenstände der höheren Geodäsie vom 28. Sep- tember 1846: »Der Verfasser, welcher alle diese Untersuchungen schon vor mehr als dreissig Jahren zu seinem Privatgebrauch durchgeführt und nur bisher zur Veröffentlichung noch keine Veranlassung gefunden hatte . . (W. IV, S. 353). Gauss hat jedoch damals noch mehr besessen. Er kannte zunächst die in dem Brief an Schumacher vom 21. November 1825 (W^. VIII, S. 401) er- wähnte Verallgemeinerung des LEGENDRESchen Lehrsatzes von der Zurück- führung eines kleinen sphärischen Dreiecks auf ein ebenes Dreieck mit eben so langen Seiten. Ferner wird schon in § 10' der Theoria attractionis corporum .sphaeroidicorum eUiptkorum (1813) auf die Lehre von der Abbildung der krum- men Flächen hingewiesen (W. V, S. 14). Im Frühjahr 1816 hatte Gauss als Preisaufgabe für die neue, von v. Lindenau und Bohnenberger begründete »Zeitschrift für Astronomie und verwandte Wissenschaften« die Aufgabe vorge- schlagen, zwei krumme Flächen mit Erhaltung der Ähnlichkeit in den kleinsten Teilen auf einander abzubilden '). Der Brief an Schumacher vom 5. Juli 1816 W. VIII, S. 370) beweist, dass er ihre Lösung besass; übrigens hat er diese in einer gleichzeitig niedergeschriebenen Aufzeichnung angegeben (W. VIII, S. 371). Unmittelbar darauf folgt (Handbuch 1 6 Bb, S. 71) das »schöne Theo- rem«, dass einander entsprechende Stücke von Biegungsflächen, wenn sie auf die Himmelskugel mittels paralleler Normalen abgebildet werden, auf der Kugel Flächenstücke gleichen Inhalts ergeben (V^. VIII, S. 372). Hierin liegt die Erhaltung der Gesamtkrümmung eines Flächenstückes gegenüber Biegungen. Aber auch der Begrifl", freilich nicht der Name, des Krümmungsmasses lässt sich bis in die Zeit zwischen 1813 und 1816 zurückverfolgen, denn eine Notiz aus dieser Zeit bringt den Satz, dass bei jener Abbildung auf die Kugel vom Halbmesser Eins das Verhältnis des Bildes eines Flächenelementes zu diesem selbst gleich dem Produkte der Hauptkrümmungen ist (W^. VIII, S. 367).

1) Hierauf beziehen sich die Briefe von v. Lindenau an Gauss vom is. und 28. Juni 1816 (Briefe im GAUSS-Archiv) ; die Briefe von Gauss an v. Lindenau scheinen vernichtet worden zu sein, vgl. Br. G.- BoLYAi, S. 15B (Brief von Sartorius v. Waltershausen an W. Bolyai vom 12. August iHsr,).

niE ALLGEMEINE LEHRE VON DEN KRUMMEN fLÄCHEN. 87

Zusammenfassend und in einigen Punkten ergänzend kann man die Ergeb- nisse aus der allgemeinen Lehre von den krummen Flächen, zu denen Gauss bis zum Jahre 1816 gelangt war, etwa folgcndermassen darstellen :

1. Auffassung der kartesischen Koordinaten eines Punktes einer krummen Fläche als Funktionen von zwei Hilfsgrössen [Theoria attractionis, § 10, W. V, S. 1 4), Abbildung krummer Flächen (ebenda), Abbildung mittels paralleler Nor- malen auf die Kugel vom Halbmesser Eins (W. VIII, S. 367)^), konforme Ab- bildung zweier krummer Flächen auf einander (W. VIII, S. 370).

2. x\b Wicklung oder Biegung krummer Flächen als besonderer Fall der Abbildimg; Begriff der Gesamtkrümmung eines Flächenstücks, Begriff des einem Punkte der Fläche zugeordneten Krümmungsmasses, Erhaltung des Krümmungsmasses gegenüber Biegungen i^W. VIII, S. 376, 372 .

3. Die Haupteigenschaften der kürzesten Linien auf krummen Flächen, genauere Untersuchung für das elliptische Sphäroid W. IX, S. 72 77), Ver- allgemeinerung des LEGENDRESchen Theorems auf beliebige Flächen (W. VIII, S. 401).

Man erkennt, dass bereits in der Zeit zwischen 1 S 1 2 und 1816 die Funda- mente für das Gebäude der Disquisitiones generales gelegt worden sind. Diese Leistung tritt jedoch erst in das rechte Licht, wenn man sich die gesamte Tätigkeit von Gauss während jenes Zeitraumes vergegenwärtigt.

In der reinen Mathematik hatte das Jahr J 8 1 2 mit der Veröffentlichmig des ersten Teiles der Untersuchungen über die hypergeometrische Reihe be- gonnen (W. III, S. 123). Im Dezember 1815 und im Januar 1816 wurden der Göttinger Gesellschaft die beiden neuen Beweise für den Fundamentalsatz der Algebra vorgelegt (W. III, S. 31 und r>7). Für die Zahlentheorie ist die im Februar 1817 vorgelegte Abhandlung über die quadratischen Reste zu nennen, die den fünften und den sechsten Beweis für das Reziprozitätsgesetz enthält (W. II, S. 47); auch die Lehre von den biquadratischen Resten ist damals gefördert worden, wie aus den Briefen an Bessel vom 23. Dezember 1816 (W. Xi. S. 76) und an Dirichlet vom 30. Mai 1828 (W. II, S. 516) hervorgeht. Aus der Geometrie sind die Untersuchungen zur Flächentheorie bereits erwähnt worden. Dazu kommen aus dem Jahre 1816 zwei Be-

ti Die Beziehung der Richtungen im Kaume auf die Punkte der Einheitskugel findet sich schon in der Scheda Ac, Varia, begonnen Nov. 1790, S. :).

88 STÄCKEL, GAUSS AT,S GEOMETER.

sprechungen von Versuchen, das Parallelenaxiom zu beweisen (W. IV. S. 363. VIII, S. 170). Wie wir gesehen haben, wusste Gauss hier mehr, als er öffent- lich auszusprechen für gut fand; er war gerade damals zur nichteuklidischen Trigonometrie durchgedrungen (W. VIII, S. 176).

Die Abhandlung über die mechanische Quadratur vom 1 6. September 1S14 bildet den Übergang zur angewandten Mathematik (W. III, S. 163). In diese selbst gehört die Bestimmung der Anziehung der homogenen elliptischen Sphäroide vom 18. März 1813 (W. V, S. 1). Im Anschluss an die Beob- achtungen des Kometen vom Jahre 1813 wurde die Theoria motus nach der Seite der parabolischen Bahnen ergänzt; die betreffende Abhandlung ist vor- gelegt am lü. September 1813 jW. VI, S. 25). Ferner sind anzuführen zahl- reiche, meistens in den Göttinger Anzeigen veröffentlichte astronomische Rech- nungen und Beobachtungen ;W. VI, S. 354 392). Die Untersuchungen aber, denen Gauss während der Zeit von 1810 bis 1818 wohl den grössten Teil seiner Zeit und Kraft gewidmet hat, die Störungen der Pallas, sind nicht ab- geschlossen worden; erst im Jahre 1906 hat Brendel die Bruchstücke heraus- gegeben (W. VII, S. 4 39 600).

»In jener Zeit« schreibt Sartorius von Waltershausen (S. 50), »schien ihm keine Anstrengung des Geistes und des Körpers zu gross, um eine Reihe von Arbeiten durchzuführen, dazu bestimmt, die AA^issenschaft des 1 9. Jahr- hunderts zu reformieren und ihr Fundamente zu unterbreiten, deren Festigkeit erst von künftigen Geschlechtern anerkannt und gewürdigt werden wird«.

39.

Die Kopenhagener Preisschrift (1822).

So lebhaft der Anteil war, den Gauss an den Gradmessungen nahm, so warm er die Nachricht von Schumachers Unternehmen begrüsst hatte, so hat er sich doch über den Vorschlag, den Meridian durch Hannover fortzusetzen, zurückhaltend geäussert. »In diesem Augenblick«, schreibt er am 5. Juli 1816, »kann ich zwar solchen AVunsch in Hannover noch nicht in Anregung bringen, da erst die Astronomie selbst noch so grosser Unterstützung bedarf: allein ich bin überzeugt, dass demnächst unsere Regierung, die auch die Wissenschaften gern unterstützt, dem glorreichen Beispiel Ihres trefflichen Königs folgen werde« fW. IX, S. 34 5V In der Tat näherte sich zu dieser Zeit der lange

DIE ALLGEMEINE LEHRE VON DEN KRUMMEN FLÄfHEN. 89

hingezogene Neubau der Göttinger Sternwarte der Vollendung, und Gauss war im April und Mai 181(3 in München gewesen, um mit Reichenbach und Stein- heil wegen der neu zu beschaffenden Messwerkzeuge zu verhandeln. Im Herbst des Jahres hat er dann seinen Einzug in die Räume gehalten, die er fast 40 Jahre innehaben sollte.

Gaede hat auf Grund der Akten dargelegt, wie der »welterfahrene und geschäftsgewandte« Schumacher Br. G.-Sch. I, S. 190) in jahrelangen Ver- handlungen die Schwierigkeiten überwand, die sich seinem zum »SoUizitieren« wenig geneigten und geeigneten Freunde Br. G.-Sch. I, S. 142) entgegen- stellten, bis dieser endlicli durch die Kabinettsordre Georgs IV., Königs von England und Hannover, vom 9. Mai 1820 den Auftrag zur Ausführung der Gradmessung erhielt '). Die Messungen im Felde haben fünf Arbeitsjahre. 1821 bis 1S2 5, erfordert, und im Frühjahr 1827 folgte noch die astronomische Bestimmung des Breitenunterschiedes der Sternwarten zu Göttingen und zu Altena. Nunmehr wurde durch die Kabinettsordre vom 25. März 1828 die Triangulation des ganzen Königreichs Hannover befohlen, und Gauss am 14. April vom Ministerium mit der Leitung beauftragt. Wenn er auch an den Aufiiahmen im Feld nicht mehr teilnahm, so erwuchs ihm doch aus den Messungsergebnissen eine giosse und öde Rechenarbeit, die erst mit dem Jahre 1848 zum Abschluss gekommen ist. Wiederholt hat Gauss beklagt, wie sehr er dadurch in seinen wissenschaftlichen Untersuchungen gehemmt werde. »Gewiss ist, dass wenn meine Lage immer die nämliche bleibt, ich den grössern Teil meiner früheren theoretischen Arbeiten, denen noch, der einen mehr, der andern weniger an der Vollendung fehlt, und die von solcher Art sind, dass Vollendung sich nicht erzwingen lässt, wenn man eben will, mit ins Grab nehmen werde. Denn etwas Unvollendetes kann imd mag ich einmal nicht geben« Brief an Bessel vom 15. November 1822, Br. G.-Bessel 8. 410 . Nur wer sich in eine solche Lage und Stimmung zu versetzen ver- mag, wird verstehen, wie es gekommen ist, dass Gauss nur einen Teil seiner umfangreichen Untersuchungen über die allgemeine Lehre von den krummen Flächen ausgearbeitet und bekanntgegeben hat.

Wir verdanken es wiederum Schumacher, dass Gauss mit der Verötfent-

r Vgl. Gaede, Beiträge zur Kenntnis von Gauss' praktisch-geodäti^ehen Arbeite», Zeitschrift für Ver- measungswesen, Bd. u, issö; auch als besondere Schrift, Karlsruhe isss erschieuen.

X'i .\l)h. 1. 12

90 STÄCKEl., GAUSS A1,S (iEOMETER. '

lichung seiner Entdeckungen einen Anfang machte. Wie schon erwähnt wurde, hatte Gauss in dem Briefe vom 5. Juli 1816 von einer Preisfrage er- zählt, die er für die neue astronomische Zeitschrift vorgeschlagen hatte, die aber nicht gewählt worden war. »Mir war eine interessante Aufgabe einge- fallen«, schreibt er, »nämlich: allgemein eine gegebene Fläche so auf einer andern (gegebenen) zu projizieren (abzubilden, dass das Bild dem Original in den kleinsten Teilen ähnlich werde. Ein spezieller Fall ist, wenn die erste Fläche eine Kugel, die zweite eine Ebene ist. Hier sind die stcreographische und die merkatorische Projektionen partikuläre Auflösungen. Man will aber die allgemeine Auflösung, worunter alle partikulären begriffen sind, für jede Arten von Flächen. Es soll darüber in dem Journal philomathique be- reits von Monge und Poinsot gearbeitet sein (wie Bukckhakot- an Lindenau geschrieben hat), allein da ich nicht genau weiss wo, so habe ich noch nicht nachsuchen können und weiss daher nicht, ob jener Herren Auflösungen ganz meiner Idee entsprechen und die Sache erschöpfen" (W. VHI, S. 3 7o)').

Schumacher benutzte die erste sich ihm darbietende Gelegenheit und veranlasste, dass die Kopenhagener Sozietät der Wissenschaften im Jahre 1820 für 1821 die Preisaufgabe stellte, »generalitcr superficiem datara in alia super- ficie ita exprimere, ut partes minimae imaginis archetypo fiant similes«. Nach- dem keine Abhandlung eingelaufen war, wurde die Aufgabe für 1822 erneuert. Als Schumacher am 4. Juni 1822 Gauss daA'^on ben.achriclitigtc (Br. G.-Sch. I, S. 267, antwortete dieser am 10. Juni: »Es tut mir leid, die Wiederholung Ihrer Preisfrage erst jetzt zu erfaliren . . . aber so lange die praktischen Messungsarbeiten dieses Jahres dauern, kann ich natürlich an eine subtile theoretische Ausarbeitung gar nicht denken« (Br. G.-Sch. 1, S. 270). Am 25. November d. J. fragte er bei seinem Freunde an, bis wann die Preisarbeit eingesendet werden müsse (Br. G.-Sch. I, S. 293), und nachdem dieser erwiedert hatte, bis Ende des Jahres, schickte ihm Gauss am I I. Dezember 1825 seine Ausarbeitung (Br. G.-Sch. I, S. 297). Am 23. Juli 1823 konnte Gauss melden,

1) Weder in dem Bulletin de la societe philomathique noch in den sonstigen Veröffentlichungen von Monge und Poinsot hat sich eine auf die konforme Abbildung bezügliche Stelle finden lassen. ' Vielleiclit hat BURCKHAKDT an PoissoNs Note: Sur les surfaces elasliques gedacht, die im Bulletin, ann6e 1814, S. 4 7 steht und in deren erstem Teil biegsame, unausdehnbare Flächen betrachtet werden. Die Note ist ein Auszug aus einer Abhandlung, die PoissoN am l. August 1814 gelesen hatte und die in dem zweiten Teil der MSmoires de l'Institut, annee ISI2, Paris isn;, S. ii!7 erschienen ist.

DIE ALLGEMEINE LEHRE VON DEiN" KRLMMEJJ FLÄCHEN. 91

dass er den Preis erhalten habe Br. G.-Sch. I, S. 317). Da die Kopenhagener Gesellschaft sich mit dem Druck der gekrönten Arbeiten nicht befasste, ist die Abhandlung erst 1S25 im dritten und letzten Hefte der von Schumacher herausgegebenen Astronomischen Abhandlungen erschienen ^W. IV, S. 189; vgl. auch Br. G.-Sch. II, S. 5 7, 17, 22).

Der Begriff der Abbildung steht im Mittelpunkt der GAUssschen Lehre von den krummen Flächen. »Sie haben ganz Recht«, schreibt Gauss am II. Dezember 1825 an Hansen, »dass bei allen Kartenprojektionen die Ähn- lichkeit der kleinsten Teile die wesentliche Bedingung ist. die man niu* in ganz speziellen Fällen und Bedürfnissen hintansetzen darf. Es wäre wohl zweckmässig, den Darstellungen, die jener Bedingung Genüge leisten, einen eigenen Namen zu geben. Inzwischen, allgemein betrachtet, ist sie doch nur eine Unterabteilung des Generalbegiiffs von Darstellung einer Fläche auf einer andern, die in der Tat gar nichts weiter enthält, als dass jedem Punkt der einen nach irgend einem stetigen Gesetz ein Punkt der andern korrespon- dieren soll. Es mag wohl etwas Anstrengung kosten, sich zu diesem allge- meinen Begriff zu erheben; dann aber fühlt man sich auch wirklich auf einem hohem Standpunkt, wo alles in vergrösserter Klarheit erscheint. . . . Man kann leicht zeigen, dass, wie allgemein dieser Begiitf sei, doch allemal jeder unendlich kleine Teil (mit Ausnahme der Stellen an singulären Punkten oder Linien} wahrhaft perspektivisch dargestellt wii'd. entweder mit völliger Ähnlich- keit, so wie perspektivische Darstellung auf pai-alleler Tafel, oder mit halber Ähnlichkeit, in der in einem Sinn eine Verkürzung statt hat« Brief im Gacss- Archiv).

Für die xibbildungen, bei denen vöUige Ähnlichkeit stattfindet, hat Gauss im Jahre 1843 das Beiwort konform vorgeschlagen (W. IV, S. 262); fiii- den besonderen Fall der Abbildung des Erdsphäroids auf die Ebene hatte schon Schubert [lliQ] von einer projectio conformis gesprochen'). Den Satz, dass eine beliebige stetige Abbildung, von singiüäreu Stellen abgesehen, im ün- endlichkleinen projektiv ist, hat wohl Tissot (1859' zuerst bekannt gemacht-).

Die konforme Abbildung; hat eine Vors;eschichte. Schon die Griechen

i: F. Th. Schtjbert, De projectione Siihaeroidis ellipticae geographita, Nova acta acad. 8c. Petrop., t. 5 ad annum 1787, Petersburg 178», S. I3d.

2; A. TissüT, kur Ics caiics giographiques, C. K. t. 4'j, Paris 1S59, S. t>7:i.

12*

92 STÄCKEL, liAUSS ALS GEOMETER.

kannten und benutzten die stereogi'aphische Projektion der Kugel auf die Ebene, und Gerhard Mercator 1512 1594) hatte die nach ihm benannte Abbildung hinzugefügt. Lambert »^l 77 2) war dann zu dem allgemeinen BegiiH' solcher Abbildungen der Kugel auf eine Ebene gelangt, bei denen die Ähn- lichkeit in den kleinsten Teilen erhalten bleibt, und liatte verschiedene neue Projektionen dieser Art angegeben, die noch heute bei der Herstellung geo- graphischer Karten verwendet werden').

Lambert hat in seiner Abhandlung auch die Formeln für die allgemeine konforme Abbildung einer Kugel auf eine Ebene mitgeteilt, die er Lagrange verdankte. Dieser geht aus von der bekannten Form für das Quadrat des Linienelementes der Kugel

( 1 ds' = dp' -f- COS" j) . f/X*,

die er durch die Substitution

(2) |i = logtang(4 5" + |/>) auf die Form

(3) dr = COS' p {dV -\- d[ir)

bringt. Die Forderung, dass die Kugel konform auf die .ry-Ebene abgebildet werden soll, führt nunmehr zu der Gleichung

4 dx'^ + dy' = <f (X, fi) {dV -\-d\i-),

die, wie die von Lagrange bei Untersuchungen aus der Zahlentheorie häutig benutzte Identität

(5) {Ä' + B^{C' + D-] = {AD-Bq' + {AC + B]y)' zeigt, erfüllt ist, wenn mau

(6) dx ^=^ ndX md\i. di/ ^== md'k-\-tid[i

setzt, und es ist daher, wie das D'ALEMBERTsche Verfahren der linearen Ver- bindungen *) erkennen lässt, x -f V— l . ^ eine Funktion von X -f- V 1 (a und

I) J. H. Lambert, Anmerkungen und Zusätze zur Entwerfung der Land- und Himmelscharfen, emchienen in den Beyträgen zum Gehrauch der Mathematik, :i. Teil, Berlin n:'i. S. ms mi.

•.!) Vgl. P. Stachel, Beiträge zur Geschichte der lutnktioneiUhcmie im 18. Jahrhundert, Bibliotheca innthem. [:i}, 2, lliOl, S. 11» und 11:1.

DIE ALLGEMEINE LEHRE VON DEN KRUMMEN FLÄCHEN. 93

gleichzeitig v \J— 1 . j/ eine Funktion von X V— 1 |J- Hieraus ergeben sich endlich j; und i/ als Funktionen von l und |x. die der Gleichung (4) genügen.

Bald darauf hat Euler in einer am 4. September 177 5 der Petersburger Akademie vorgelegten, 17 78 veröffentlichten Abhandlung denselben Gegen- stand behandelt ' . Er vermeidet den Kunstgi-ift", die Identität (5) heranzuziehen, und gewinnt die Gleichungen 6 oder doch mit ihnen gleichbedeutende Glei- chungen unmittelbar aus der Forderung der Ähnlichkeit in den kleinsten Teilen. Damit ist zugleich bewiesen, dass das Bestehen der Gleichungen (6) nicht nur, wie bei Lagrange, hinreichend, sondern auch notwendig ist. Wäh- rend ferner Lambert aus den Formeln von Lagrange keinen Nutzen gezogen hatte, gelingt es Euler, mit ihrer Hilfe besondere Lösungen der Aufgabe herzuleiten.

Ein Blick auf die vorstehenden Fonneln lässt erkennen, dass das Ver- fahren von Lagrange und Euler sich ohne weiteres auf den allgemeineren Fall übertragen lässt, wo das Quadrat des Linienelementes der krummen Fläche, die konform auf die Ebene abgebildet werden soll, auf die Gestalt

(7) ds- = <!^ (X, ji) {dX- -\- d\i^)

gebracht werden kann. Für die Drehflächen, bei denen vermöge der Meri- diane und Parallelkreise

(8j ds- = dp' -{- G{p)d)c

ist, gelingt das sofort durch die Substitution

Auf diese Weise ist Lagrange 1781 zu den allgemeinen Formeln für die konforme Abbildung einer Drehfläche auf eine Ebene gelangt; er hat davon schöne Anwendungen gemacht*).

Der Fortschritt, den Gauss in der Preisschrift vom Jahre 1S22 gemacht hat, liegt darin, , dass er zeigte, wie man bei einer beliebigen reellen krummen Fläche, bei der das Quadrat des Linienelements in der allgemeinen

1, L. EüLEB, De repraesentaiione superficiei sphaericae stiper piano, Acta acad. sc. Petroj). t. i pro anno 1777 ; I, 1778, S. 107.

2) J. L. Lageange, Swr la construction des cartes geographiques, Nouv. M6m. de l'.\cad., annee 1779, Berlin I7»l, S. I6I, 186; Oeuvres, t. 4, S. 635.

94 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

Form

( 1 0) ds- = Edp- + 2 Fdp dq-}-G dq'

gegeben ist, die besondere Form (l 1) ds- = '^ (X, ix) {dV + rffi-)

herstellen kann. Dies geschieht, indem die Gleichung (12) (// = 0

integriert wird, oder was auf dasselbe hinauskommt, indem für zwei konjugiert komplexe lineare Differentialformen, deren Produkt ds' ist, die ebenfalls kon- jugiert komplexen EuLERSchen Multiplikatoren ermittelt werden. Damit aber erhält man zugleich die allgemeine konforme Abbildung der gegebenen krummen Fläche auf die Ebene, sodass es des Verfahrens von Lagrange gar nicht mehr bedarf, und während bei Lagrange das Imaginäre nur formal als Mittel zur Integi-ation der Gleichungen (6) auftrat, ist jetzt durch die Gleichung ds^ = 0 der wahre Grund für das Auftreten von Funktionen komplexer Grössen aufgedeckt.

Wer sich der hier dargelegten Auffassung anschliesst, wird dem Urteil Jacobis nicht beipflichten können, dass »der LAORANGESchen Arbeit nur wenig hinzuzusetzen war«'i. Jacobi hat auch beanstandet, dass Gauss diese Arbeit nicht erwähnt habe; allein Gauss ist überhaupt nicht auf die Geschichte der konformen Abbildung eingegangen, ebenso wie sich auch Euler aller An- führungen enthalten hatte.

30.

Vorarbeiten zu den Allgemeinen Untersuchungen über die krummen Flächen (1822 1825). Gauss hatte der Kopenhagener Preisschrift als Kennwort den Ausspruch Newtons mitgegeben: Ab his via sternitur ad maiora; diese Worte bilden den Schluss der 1704 als Anhang zur Optik veröffentlichten Abhandlung De quadratura curvarum, in der Newton ältere Untersuchungen bekannt gab, die ihn zur Fluxionsrechnung geführt hatten').

1) C. G. Jacobi, Vorlesungen über Dynamik, gehalten im W.-S. is42;43, 2. Ausgabe, Berlin is84, S. 215; vgl. auch Br. G.-ScH., III, S. 173, der beim Abdruck unterdrückte Name ist v. LiTTROW.

2) J. Newton, Opuscula mathematica, rec. I. Castillioneus, vol. i, Lausanne und Genf 174 4, S. 244|; es heisst wörtlich: "Et his principiis via ad maiora sternitur' .

DIE ALLGEMEINE LEHRE VON DEN KRUMMEN FLÄCHEN. 95

Was waren die grösseren Dinge, zu denen diu konforme Abbildung den Weg bahnte? Eine Andeutung findet man im Art. 4 der Preisschrift: »Wenn überdies [das Vergrösserungsverhältnis bei der Abbildung] m = 1 ist, wird eine vollkommene Gleichheit i^der einander entsprechenden Linienelemente] statt- finden, und die eine Fläche sich auf die andere abwickeln lassen« (W. IV, S. 195 . Dass die Lehre von der Abwicklung oder Biegung der krummen Flächen gemeint war, beweist eine Aufzeichnung, die Gauss am 13. Dezember 1822, zwei Tage, nachdem er die Beantwortung der Preisfrage an Schumacher abgesandt hatte, begonnen und am 15. Dezember beendet hat W. VIII, S. 374 3841 Sie führt den Titel: Stand meiner Untersuchung über die Umformung der Flächen und zeigt, dass er damals für den besonderen Fall, wo das Quadrat des Linienelementes vermöge der konformen Abbildung auf die Form

(1) ds'- = m [dp' + dq'\

gebracht ist, die Rechnungen durchgeführt hat, die sich für den allgemeinen Fall, wo

(2) ds- = Edf + 2 Fdp dq + Gd^

ist, in den Artt. 9 und 10 der Disq. gen. finden. Das Endergebnis besteht in dem Lehrsatz, dass das Ki-ümmungsmass der Fläche allein durch die Funktion m j}, q) und deren erste und zweite partielle Ableitungen nach ;; und q aus- gedrückt werden kann. Hieraus folgt sogleich, dass das Krümmungsmass bei den Biegungen einer Fläche erhalten bleibt.

Wir haben gesehen, dass Gauss das »schöne Theorem« von der Erhaltung des Krümmuugsmasses oder genauer von der Erhaltung der Gesamtkrünimimg solcher Flächenstücke, die durch Biegung aus einander hervorgehen, bereits im Jahre 1816 besass. A^'enn man annimmt, dass er den vorstehenden aus der konformen Abbildung tiiessenden Beweis, der in der Aufzeichnung vom Dezember 1822 als Ziel der Untersuchung erscheint, in der Zeit zwischen 1816 und 1S22 gefunden hat, so entsteht die Frage, welches die ursprüngliche Quelle für das Theorem gewesen ist. Aufzeichnungen aus der Zeit vor 1S16, die sich darauf beziehen, sind nicht vorhanden, es lässt sich jedoch sehr wahr- scheinlich machen, dass die Lehre von den kürzesten Linien auf krummen Flächen den Zugang eröffnet hat.

96 8TÄCKEL, GAUSS AI-S GEOMETER.

Die stärksten Gründe für diese Beliauptung- ergeben sicli aus einem ersten Entwürfe der Bisq. gen., der den Titel führt: »Neue allyemetne Unter.suc/iini(/m über die krummen Flärhenv und der aus den letzten Monaten des Jahres 182 5 stammt W. VllI, S. 40S 442;. Es empfiehlt sich daher, zunächst die Ent- stehung dieses Entwurfs zu schildern und jene Frage im Zusammenliang mit dem Bericht über dessen Inhalt zu erörtern.

Schon am 28. Juli 1823 hatte Gauss, an die kürzlich erfolgte Erteilung des Kopenhagener Preises anknüpfend, zu Oi.bers bemerkt: »Sollte ich in diesem Leben noch einmal in eine dem Arbeiten günstigere Eago kommen, so werde ich diese Abhandlung |die Preisschrift] mit als Teil einer viel aus- gedehnteren Untersuchung verarbeiten» (Er. G. -().. 2, S 252). Er meinte damit ein grösseres, die Theorie und die Praxis der höheren Geodäsie be- handelndes Werk. Ein solcher Plan wird ausdrücklich in dem Brief an Oi.- BERS vom 9. Oktober 1825 erwähnt. »Ich habe dieser Tage angefangen, in Beziehung auf mein künftiges Werk über Höhere Geodäsie einen (sehr) kleinen Teil dessen, was die krummen Flächen betrifft, in Gedanken etwas zu ordnen. Allein ich überzeuge mich, dass ich bei der Eigentümlichkeit meiner ganzen Behandlung des Zusammenhanges wegen gezwungen bin, sehr weit aus- zuholen, sodass ich sogar meine Ansicht über die Krümmungshalbmesser bei planen Kurven vorausschicken muss. Ich bin darüber fast zweifelhaft geworden, ob es nicht geratener sein wird, einen Teil dieser Lehren, der ganz rein geometrisch (in analytischer Form; ist und Neues mit Bekanntem gemischt in neuer Form enthält, erst besonders auszuarbeiten, es vielleicht von dem Werke abzutrennen und als eine oder zwei Abhandlungen in unsere Commen- tationen einzurücken. Indessen kann ich noch vorerst die Form der Bekannt- machung auf sich beruhen lassen und werde einstweilen in dem zu Papier bringen fortfahren« (W. VIII, S. 39 7, IX, S. 3 76)').

Die Briefe an Schumacher vom 21. November 1825 (W. VIII, S. 400) und an Hansen vom 11. Dezember 1825 Brief im GAUSS-Archivj zeigen, dass Gauss bis gegen Ende des Jahres an dem Entwurf gearbeitet hat. Mit der Dar- stellung des Krümmungsmasses bei geodätischen Polarkoordinaten, für die (3) ds- = dp- -|- G dq'

1) Vgl. auch den Brief an Pfaff vom 21. März 1S25; "Nach Beendigung der Messungen werde ich darüber ein eigenes Werk, vermutlich von bedeutender Ausdehnung, ausarbeiten« W. X 1, S. 2.'iuj.

DIE ALLGEMEINE LEHRE VON DEN KRÜMMEN FLÄCHEN. 97

wird, hat cm' abgebrochen, angensc^heinlicli, weil er jetzt erkannte, dass es möglich sei, eine entsprechende Formel für di(> allgemeine Form 2) des Qua- drats des Linienelementes aufzustellen. Bei der wirklichen Durchführung dieses Gedankens, an die er sogleich ging, ist Gauss auf grosse Schwierig- keiten gestossen. Er hat sie erst im Herbst ]S2(i überwunden. Hierüber wird in der nächsten Numnu-r berichtet werden, in dieser Nummer wenden wir uns zu den Neuen aUffemeinen Untersuchungen.

Wie Gauss in dem Brief an Olbers vom it. Oktober 1825 angekündigt hatte, beginnen die Neuen allgemeinen Untersuchungen über die krummen Flächen mit den ihm eigentümlichen Ansichten über die Krümmung ebener Kurven (artt. 1 6). Zwei Punkte sind dabei wesentlich, erstens dass er gerichtete Gerade einführt und so die Frage der Vorzeichen klärt, zweitens, dass die Krümmung der Kurven mittels derjenigen Abbildung auf den Kreis vom Halbmesser Eins eingeführt wird, bei der Punkte mit parallelen Normalen einander entsprechen.

Zum Räume übergehend bringt Gauss zunächst lartt. 7 8j sieben ein- leitende Sätze, die sjjäter in die artt. 1, 2 und 4 der Disq. gen. aufgenommen worden sind; sie dienen dazu, die Abbildung der krummen Fläche auf die Kugel vom Halbmesser Eins mittels paralleler Normalen vorzubereiten. Das vorletzte Theorem ist neu; es findet sich auch im Handbuch 1 9 Be, S. 78 und stammt aus der Zeit um 1810.

Es folgt (artt. 9 11) die Untersuchung des Verhaltens einer krummen Fläche in der Umgebung eines regulären Punktes. Gauss benutzt hier nicht wie in den Bisq. gen. (art. 8) das Verfahren der Reihenentwicklung, sondern betrachtet die Schnittkurven der Fläche mit dem Büschel der diurch den be- trachteten Punkt gehenden Ebenen : er gelangt daher liier auch zu dem Satze von Meusnier, der in den Disq. gen. nicht vorkommt.

Am Schluss des art. 1 I wird die Abbildung der krummen Fläche auf die Einheitskugel mittels paralleler Normalen gelehrt. Von hier aus gelangt man, in Verallgemeinerung der bei den ebenen Kurven angestellten Überlegungen, zu den Begriffen der Gesamtkrümniung eines Flächenstückes und des Krüm- mungsmasses, das einem Flächenpunkte zugeordnet ist. Die einem Flächen- stück entsprechende Area auf der Einheitskugel wird hier noch nicht als deren Gesamtkrümmung bezeichnet. Dieser Name ist also wohl erst später

X2 Abh. 4. 13

98 STÄCKEL. GAUSS ALS GEOMETER.

entstanden. In dem Brief an Oi.bers vom 20. Oktober 1825 sagt Gauss, seine Untersuchungen bezögen sich auf eine Menge von Gegenständen, die er nicht anführen könne, »weil die Begriffe davon nicht gangbar sind und selbst noch keine Namen dafür existieren« (Br. G. -O. 2, S. 431, W. VIII, S. 398'. Endlich Avird der Zusammenhang zwischen dem Krümmungsmass und den beiden Hauptkrümmungen entwickelt.

Im Unterschied gegen die Disq. gen. wendet sich Gauss nunmehr sogleicli zu den kürzesten Linien, die auf der betrachteten krummen Fläche liegen, und geht hier auch auf ganz andere Art vor als dort.

Die Aufgabe, zwei gegebene Punkte einer krummen Fläche durch die kürzeste Linie zu verbinden, war 160 7 von Johann Bernoulu den Geometem gestellt worden', aber erst 1732 hatte Euler eine Lösung veröffentlicht'); Bernoulli gab sein Verfahren 17 42 bekannt*. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wiu-den besonders die kürzesten Linien auf dem elliptischen Sphäroide unter- sucht, weil sie für die Geodäsie wichtig waren. Diese Kurven wurden daher als geodätische Linien bezeichnet ; erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist es üblich geworden, bei beliebigen krummen Flächen von geodätischen Linien zu sprechen*.

Gauss war, wie wir gesehen haben ;S. 85, schon vor 1816 damit be- schäftigt gewesen, die Lehre von den kürzesten Linien des Sphäroides für die /wecke der Geodäsie auszubauen. Er hat sich aber damals auch schon mit den kürzesten Linien auf beliebigen krummen Flächen beschäftigt, denn in dem Briefe an Schumacher vom 21. November 1825 schreibt er, seine allge- meinen Untersuchungen über die krummen Flächen seien durch manchen glücklichen Fund belohnt worden. »So habe ich zum Beispiel die Generali- sierung des LEGENDREschen Theorems, dass auf der Kugel die Seiten [eines kleinen sphärischen Dreiecks] proxime den Sinus der um l des sphärischen Exzesses verminderten Winkel proportional sind, auf krumme Flächen jeder

1) JOH. Beenoulu, Journal des savants, ann6e 1697, S. VM, Opera omnia, Lausanne 1742, 1. 1, S. 2o4.

2) L. Eur.ER, De linea hremssima in superßcie quacunqtte duo quaelibä puncla iungente, Comment. acad sc. Petrop. t. 3 (1728), 17.12, S. im.

X) Joe. Bernoulli, In superficie quacuntjue ctiVBa ducere Hneam inter duo pmtcta brevissimam, Opera omnia, Lausanne 1742, t. IV, S. tos.

4) Vgl. P. Stäckel, Bemerkungen ztir Geschichte der geodätischen Linien, Leipziger Berichte, 1893,

S. 444.

DIE ALLGEMELNE LEHRE VON DEN KRLMMEN FI.ÄCHEN. 99

Art ;wo die Verteilung ungleich geschehen inuss , welche ich der Materie nach schon seit vielen Jahren besessen, aber noch nicht zu möglicher Mit- teilung an andere entwickelt hatte, jetzt auf eine überaus elegante Gestalt gebracht« W. VIII, S. 4 00; vgl. auch den Brief an ülbers vom 20. Oktober 1825, Br. G.-C). 2, S. 431, W. VIII, S. 399;. In einer gleichzeitig nieder- geschriebenen Aufzeichnung hat G.\uss sein Verfahren angedeutet W. \III, S. 401 405;; jene ungleiche Verteilung wii-d danach bedingt durch die Werte, die dem Krümmungsmass der Fläche in den Eckpunkten des Dreiecks zu- kommen.

Legendre hatte sein Theorem von der Zurückführung eines kleinen sphä- rischen Dreiecks auf ein ebenes Dreieck mit Seiten derselben Länge 17S9 ohne Beweis bekanntgemacht' und den Beweis 1798 nachgeholt'.

Bei einer A'erallgemeinerung auf geodätische Dreiecke beliebiger krummer Flächen musste der erste Sehritt sein, die Winkelsumme eines solchen Drei- ecks zu ermitteln, und nun sehen wir, dass Gauss in den Neuen allgemeine)! Untersuchungen, zu denen wir hiermit zurückkehren, nachdem er bewiesen hat, dass für- jeden Punkt einer kürzesten Linie die Schmiegungsebene die beti'effende Flächennormale in sich enthält art. 12, sogleich zu dem Satze übergeht, dass die Summe der Winkel eines geodätischen Dreiecks von zwei Rechten um einen Betrag abweicht, der durch den Inhalt des entsprechenden Dreiecks auf der Einheitskugel gegeben yroiä. wenn man deren Obei-fläche gleich acht Rechten setzt.

Gauss schreibt am 21. November 1825, er habe die Generalisierung des LEGENDRESchen Theorems schon seit \delen Jahren besessen. Man wird daher annehmen dürfen, dass er die ersten Schritte dazu schon vor 1 S 1 6 gemacht hatte, dass er also schon damals den Satz von der Winkelsumme eines geo-

1) A. M. Legendre. Memoire sur les Operations trigonometriques dont les resultats dependent de la figure de la terre, Hiatoire de l'Acad., annee i;8T, Paris 17S9, Memoires, S. 358.

2; A. M. Legendre, Resolution des triatigles splteriques dont les cotes sont tres-pettts, potir la deter- minatioti d'un arc de meridien, Note III des Werkes ron Delambre, Methodes analytiques pour la deter- mination d'un arc de meridien, Paris, an VIII : kurz darauf erschien im Journal de l'ficole polytechnique ein Beweis von Lagraxge, Solutions de quelques 2)roblenies relatifs atix trinttgles sphcriques, t. II, cah. 6, Paris 1798, S. 270; Oeuvres, t. ", S. 329. Der Merkwürdigkeit wegen sei hier auf die anmassende Kritik hingewiesen, die Kaestser in seinen Geometrischen Ablumdlwigen, 2. Sammlung, Göttingen iTüi, S. 456 •»5S an dem LEGENDREschen Theorem geübt hat, vielleicht hat sie zu dem geringschätiigen Urteil beigetragen, das Gauss über Kaestser als Mathematiker gelallt hat.

13*

100 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

dätischen Dreiecks besass. zu dessen Heiieituug die Kenntnis der einfachsten Eigenschaften der kürzesten Linien genügt, sobald man den genialen Ge- danken der Abbildung mittels paralleler Normalen gefasst hat; die Beziehung der Richtungen im llaume auf die Einheitskugel liat Gauss aber schon im Jahre 1799 besessen, das zeigt die bereits S. 87 erwähnte Aufzeichnung vom November 1799. Wir wissen ferner, dass er schon vor 1816 die Biegung krummer Flächen betrachtet und nacli Kennzeichen dafür gefragt hatte, dass zwei gegebene Flächen durch Biegung aus einander hervorgehen (W. VIII, S. 372 . Bei der Biegung entsteht aber aus einem geodätischen Dreieck wieder ein geodätisches Dreieck mit denselben Winkeln, es bleibt also die Winkelsumme erhalten und damit auch die Grösse der Area, die dem geo- dätischen Dreieck auf der Einheitskugel bei der Abbildung mittels paralleler Normalen entspricht. Denkt man sich also ein beliebiges Flächenstück in geodätische Elementardreiecke (Triangulation) zerlegt, so folgt, dass bei der Biegung irgend welchen einander entsprechenden Flächenstücken gleich grosse Flächenstücke auf der Einheitskugel zugeordnet werden, und das ist genau das »schöne Theorem«. Wird schliesslich, damit man zu einer Funktion des Ortes auf der Fläche gelangt, in naturgemässer Verallgemeinerung des Be- griffes der Krümmung bei Kurven das Krümmungsmass bei Flächen als der Grenzwert erklärt, dem das Verhältnis der Area auf der Einheitskugel zu dem entsprechenden Flächenstück zustrebt, wenn dieses auf den betrachteten Punkt zusammenschrumpft, so ergibt sich »der wichtige Lehrsatz, dass bei der Übertragung der Flächen durch Abwicklung das Krümmungsmass an jeder Stelle unverändert bleibt«, und das ist das Endergebnis der Entwicklungen in den artt. 1 :$ 16 der Neuen allgemeinen Untersuchungen. Die hier gegebene Herleitung wird man mithin als die ursprüngliche, vor 1816 gefundene, da- gegen die Herleitung aus der Form (!) des Quadrates des Linienelements als die spätere, zwischen 1816 und 1825 entstandene anzusehen haben.

Es folgt der Beweis des Satzes, dass der Ort der Punkte gleicher geo- dätischer Entfernung von einem Punkte der Fläche eine Kurve ist, die alle von dem Punkte ausgehenden geodätischen Linien unter rechtem Winkel schneidet 'art. 17 , und den Schluss des liUtwurfes bildet der Satz, dass bei Einfiihrung geodätischer Polarkoordinaten, die dem Quadrate des Linien- elements die Gestalt :$; verleihen, das Krümmungsmass allein durch die

DIE ALLGEMEINE LEHRE VON DEN KRUMMEN FLÄCHEN. 101

Funktion G yp, q, und deren erste und zweite partielle Ableitungen nach p und q ausgedrückt werden kann 'art. 18.

Damit war ein dritter Beweis für die Erhaltung des Krümmungsmasses gegenüber Biegungen gefunden. Was aber bei den beiden besonderen For- men (1) und (3) des Linienelementes gelungen war, musste auch für die allge- meine Form (2 gelten, das heisst, es musste möglich sein, das Krümmungs- mass allein durch die P'unktionen E\p,q), F[p,q;, G'p,q) und deren erste und zweite partielle Ableitungen auszudrücken. So lange das nicht geleistet war, hatte die Lehre vom Krümmungsmass keine befriedigende Gestalt gewonnen, und daher hat Gauss Ende 182 5 den Entwurf beiseite gelegt, »nil fecisse putans. si quid superesset agendum«.

31.

Die Entstehunng der Disquisitiones generales circa superficies

curvas (1826 1827).

Nur nach langem, hartem Ringen hat Gauss das Ziel erreicht, das er sich Ende 1825 gestellt hatte, die Lehre von den krummen Flächen in voller Allgemeinheit zu begründen. Am 19. Februar 1826 schreibt er an ülbers: »Ich wüsste kaum eine Periode meines Lebens, wo ich bei so angestrengter Arbeit wie in diesem Winter doch verhältnismässig so wenig reinen Gewinn geerntet hätte. Ich habe viel, viel Schönes herausgebracht, aber dagegen sind meine Bemühungen über anderes oft Monate lang fruchtlos gewesen (Br. G.-O. 2, S. 438). Und am 2. April 1826: »Meine theoretischen Arbeiten lassen bei ihrem so sehr grossen Umfange leider noch viele Lücken; am leichtesten w^äre mir geholfen, wenn ich mir erlaubte, mit der Bekanntmachung meiner Messungen zwar alle meine Rechnungseinrichtungen zu verbinden, aber deren Ableitungen aus ihren höhern Gründen für ein ganz getrenntes Werk für glücklichere zukünftige Zeiten aufsparte. Dann w äre nirgends ein Anstoss. Vors erste werde ich die scharfe Ausgleichung meiner 32 Punkte, die 51 Drei- ecke und 146 Richtungen liefern, vornehmen« (W. IX, S. 376\ Es sei hierzu bemerkt, dass die Arbeiten im Felde im August 1825 beendet waren, und sich lediglich um den Abschluss der Rechnungen handelte, sodass Gauss für seine theoretischen Arbeiten Zeit gewann.

102 STÄCKEI., GAUSS ALS GEOMETER.

Im Herbst 1826 scheint Gauss durchgedrungen zu sein. Er berichtet am 20. November an Bessel: »Die Verarbeitung der Materialien zu dem be- absichtigten Werke über meine Messungen kostet mich viele Zeit. Meine Hauptdreiecke, 33 Punkte befassend, sind zwar längst fertig berechnet, aber die Berechnung der vielen geschnittenen Nebenpunkte . . . macht viel Ar- beit. . . . Noch viel mehr Verlegenheit macht mir der weit ausgedehntere theoretische Teil, der so vielfach in andere Teile der Mathematik eingreift. Ich sehe hier kein anderes Mittel, als mehrere grosse Hauptpartien von dem Werke abzutrennen, damit sie selbständig und in gehöriger Ausführlichkeit entwickelt werden können. Gewissermassen habe ich damit schon in meiner Schrift über die Abbildung der Flächen unter Erhaltung der Ähnlichkeit der kleinsten Teile den Anfang gemacht: eine zweite Abhandlung, die ich vor ein paar Monaten der Königlichen Sozietät übergeben habe und die hoffent- lich bald gedruckt werden wird, enthält die Grundsätze und Methoden zur Ausgleichung der Messungen '). . . . Vielleicht werde ich zunächst erst noch eine dritte Abhandlung ausarbeiten, die mancherlei neue Lehrsätze über ki-umme Flächen, kürzeste Linien, Darstellung krummer Flächen in der Ebene usw. entwickeln wird. Hätten alle diese Gegenstände in mein projektiertes W^erk aufgenommen werden sollen, so hätte ich entweder manches ungi'ündlich abfertigen oder dem Werk ein sehr buntscheckiges Ansehen geben müssen« fW. IX, S. 362).

Mit der Ausarbeitung der dritten Abhandlung hat Gauss bald darauf be- gonnen. Nach dem Briefe an Olbers vom J4. Januar 1827 (Br. G.-O. 2, S. 467) war er damals »schon ziemlich damit vorgerückt«, und am 1 März 1827 schreibt er jenem, die Abhandlung sei vollendet, er werde sie jedoch der Sozietät noch nicht übergeben, da doch auf die Ostermesse kein Band der Denkschriften herauskomme (W. IX, S. 377). In der Tat sind die Disqui- sitiones generales circa superficies curvas der Göttinger Gesellschaft der Wissen- schaften erst am 8. Oktober 1827 vorgelegt und in den Band VI der Com- mentationes recentiores vom Jahre 1828 aufgenommen worden (W. IV, S. 217). Vorher war in den Göttinger Gelehrten Anzeigen vom 5. November 1827 eine ausführliche Selbstanzeigc erschienen (W. IV, S. 341 347).

1) C. F. Gaus.s, Supplcmentum theoriae combinationis observationum erroribus minimis obnoxiae, vorgelegt den 16. September I8i6, W. IV, S. 55.

DIE ALLGEMEINE LEHRE VON DEN KRUMMEN FLÄCHEN. 103

Von den Neuen allgemeinen Untersuchungen unterscheiden sich die Dis- qumtiones generales hauptsächlich in zwei Punkten: sie enthalten erstens den Ausdruck für das Krümmungsmass bei beliebiger Wahl der bestimmenden Veränderlichen p, q und zweitens die Verallgemeinerung des LEGENDRESchen Theorems von der Kugel auf beliebige Flächen.

Die allgemeine Formel für das Krümmungsmass hat sich Gauss, wie schon angedeutet wurde, im Laufe des Jahres 182G erarbeitet. Die im Nach- lass befindlichen Aufzeichnungen gestatten es hier, einmal einen vollständigen Einblick in die Entstehung seiner Gedanken zu gewinnen. Da Gauss dabei an schon vorliegende Untersuchungen über die Abwicklung krummer Flächen anknüpft, wiid es angebracht sein, einen kurzen geschichtlichen Überblick vorauszuschicken ^).

Die Abwicklung von Zylindern und Kegeln auf die Ebene war im 18. Jahrhundert wiederholt betrachtet und zur Lösung von Aufgaben benutzt worden. Euler hatte dann (17 70) nach den krummen Flächen gefragt, die sich überhaupt auf eine Ebene abwickeln lassen, und war, indem er der An- schauung entnahm, dass die gesuchten Flächen gradlinig sein müssen, zu ihrer allgemeinen Darstellung gelangt'). Wie eine erst im Jahre 1862, also nach dem Tode von Gauss aus Eulers Xachlass abgedruckte Notiz' zeigt, ist dieser um dieselbe Zeit zu dem Problem gelangt, »invenire duas superficies, quarum alteram in alteram transformare licet, ita ut in utraquc singula puncta liomo- loga easdem inter se teneant distantias«. und er hat dafür genau die Glei- chungen angesetzt, die man im art. 1 2 der Disq. gen. findet. Es ist ihm auch gelungen, ihre Integiation für die Biegung von Kegeln in Kegel durchzuführen, und er hat zum Schluss die Frage nach den Biegungen von Stücken einer Kugelfläche aufgeworfen.

Unabhängig von Euler hatte Monge Untersuchungen über die auf die Ebene abwickelbaren Flächen angestellt. Er hat sie. durch Eulers Abhand- lung vom Jahre 1771 veranlasst, in einer zweiten Arbeit weiter gefülut; in

1) Ausführliche Angaben lindet man bei P. Sr.iCKEL. Bemerkungen zur Geschichte der geodätischen Linien, Leipziger Berichte, I8ii3, S. 452 455.

2) L. Euler, De solidis, quorum superßciem in planum explicare licet, Novi Comment. Petrop. i's (1771), 1772, S. 3; vorgelegt am 5. März 1770.

3) L. Euler, Opera postuma, St. Petersburg 1862, t. I, S. 4it4-4!iG.

104 STÄCKEI,. GAUSS ALS GEOMETER.

dieser findet sich auch die bekannte partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung für die auf die Ebene abwickelbaren Flächen 'i.

Wie Gauss zu dem allgemeinen Bcgritl' der Biegung krummer Flächen gelangt ist, wissen wir nicht. Es ist nicht wahrscheinlich, dass die bereits erwähnten Arbeiten über die Gestalt elastischer Flächen, an denen sich ausser PoissoN (1814) auch Lagrange (1811) und Sophie Germain (1815) beteiligt hatten*, auf ihn F^inHuss gehabt haben. Dagegen sind ihm die schon früher veröffentlichten Abhandlungen von Euler und Monge bekannt gewesen. Die auf die Ebene »abwicklungsfähigen Flächen« hat er bereits in der Aufzeichnung vom Dezember 1822 (W. VIII, S. 382 384) nach der Seite des Krümmungs- masses betrachtet, und in den Neuen allgemeinen Untersuchungen art. 1 6 1 be- merkt er, aus dem Satze von der Erhaltung des Krümniungsmasses folge der wichtige, aber bis jetzt nicht mit der wünschenswerten Evidenz abgeleitete Lehrsatz, dass bei jenen Flächen das Krümmuugsmass verschwindet, und damit sei erst bewiesen, dass sie der bekannten Differentialgleichung genügen (vgl. auch AV. VIII, S. 437 und 444).

Wie wir sahen, hatte Gauss bei zwei besonderen F'ormen des Linien- elementes das Krümmungsmass durch den darin auftretenden Koeffizienten und dessen erste und zweite partielle Ableitungen ausdrücken können. Er wusste, dass das Kiümmungsmass bei den Biegungen erhalten bleibt, folglich musste bei der allgemeinen Form des Linienelementes das Krümmungsmass ebenfalls dui'ch die darin auftretenden Koeffizienten und deren partielle Ab- leitungen darstellbar sein. Allein die Rechnungen, die dort zum Ziel geführt hatten, Hessen sich nicht ohne Weiteres auf den F^all beliebiger bestimmender Grössen übertragen; hierauf beziehen sich wohl die Klagen über die Un-

i) G. Monge, Sur les diveloppees, les rayons de courhure et les differents genres d'infleximis des courbes ä double eourbure, Mem. sav. 6tr. t. lo, Paris I785, S. .'in (eingereicht i77i); Sur les inoprielis de plusieurs genres de surfaees courbes, pariicuKerement sur cclles des surfaces diveloppables, avec une appUcation ä la theorie des ombres et penombres, Mem. sav. etr. t. 9, Paris i78o, S. 3S2 (eingereicht 1776); vgl. auch J. MEU.SNIER, Sur la eourbure des surfaces, Mem. sav. 6tr. t. i o, Paris 1785, S. 50'J (vorgelegt 1776).

2) J. L. Lagrange, Mecanique analytigue, 2. 4d., t. 1, Paris isi2, Statique, sect. V, Chap. ;), § JI ; De riquilibre d'un fil ou d'une surface flexible et au meine temps extensible et contraclible, Oe\ives, t. 1 1 , S. 156; S. Germain, Becherehes sur la theorie des surfaces elastiques, Paris is2o (verfasst 1815). Diese Untersuchungen waren veranlasst durch Ciiladnls Entdeckungen über die Klangfiguren {Akustik Leipzig 1802).

niE AT.T.nRMRiXF, T,Errur. von den kuummen flächen. lOö

fruclitbarkpit langer Bemiilinno(m in dem selion angefälirten Biiefe an Olbers vom 19. Februar 1826.

Im Sommer oder Herbst-, des Jahres kam Gauss auf den Gedanken, die auf die Ebene abwickelbaren Flächen heranzuziehen. Diese sind einerseits dadurch gekennzeichnet, dass das Krümmungsmass verschwindet, andererseits aber dadurch, dass für sie

Edf + 2 Fdp dq J-Gdq' = df + dir,

das heisst gleich dem Produkt der beiden vollständigen Differentiale dl = dt -\-idu und d\L = dt-^idu ist. Gauss verschaffte sich jetzt 'W. VIII, S. 446, Handbuch 1 6 Bb, S. I I 4) die Bedingungsgleichung dafür, dass

Edf+2Fdpdq^Gdq' = dXd\L

wird. Es ergab sich als linke Seite ein Ausdruck, der aus den Koeffizienten E, F, G und deren ersten und zweiten partiellen Ableitungen nach p und q zusammengesetzt ist, und man durfte vermuten, dass er sich vom Krümmungs- mass nur um einen unwesentlichen Faktor unterscheidet.

Damit war Gauss in den Besitz des Zählers gelangt, der bei dem allge- meinen Ausdruck für das Krümmungsmass auftritt, und nachdem er so das Ergebnis kannte, glückte es ihm auch, die unmittelbare Ableitung der Formel zu finden, die im art. I 1 der Disq. qen. angegeben wird. In der Tat stehen die Rechnungen über das »Krümmungsmass der Flächen bei allgemeinem Aus- druck derselben« im Handbuch 1 6 Bb, S. 128 131. also einige Seiten hinter der vorher erwähnten Aufzeichnung über die auf die Ebene abwickelbaren Flächen.

Von dem höheren Standpunkte aus betrachtet, den Gauss jetzt gewonnen hatte, verlor der ursprüngliche Beweis für die Erhaltung des Krümmungs- masses in seinen Augen an Wert, ja noch mehr, der Satz von der AVinkel- summe des geodätischen Dreiecks, der dafür den Ausgangspunkt gebildet hatte, bekam jetzt seine Stelle als eine Folgerung aus dem Hauptsatze von dem Krümmungsmass, wenn man ihn nämlich auf geodätische Polarkoordinaten anwandte [Disq. gen. art. 20).

Die Verallgemeinerung des LsGENDREschen Theorems, zu der wir uns nunmehr wenden, hätte Gauss schon in die Neuen allgemrine» Unti'r.^urlntiKp'n

X2 Abh. 4. i 1

lOß STÄCKET,, GAl'RR A1,S GEOMETER.

aufnehmen können, denn es war ihm im November 1825 gelungen, sie auf die elegante Gestalt zu bringen, die er in den artt. 25 bis 28 der Difiq. gen. mitteilt, und er würde es sicherlich getan haben, wenn er nicht Ende 1826 die Arbeit an dem Entwurf abgebrochen hätte. Bei jener Verallgemeinerung wird die Lehre von den kürzesten Linien mit der Lehre vom Krümmungsmass verbunden, auf die sich die beiden Hauptabschnitte jener Abhandlung beziehen. >ind so erscheint der Satz von der Zurückführung kleiner geodätischer Drei- ecke auf ebene Dreiecke als die Kröniuig des Gebäudes der allgemeinen Lehre von den krummen Flächen. Zugleich aber bildet er in echt GAUssscher Art den Übergang zu den Anwendungen. Gauss hat sich hierüber in dem Briefe an Olbers vom 1. März 1827 folgendermassen ausgesprochen: ».Jene Abhand- lung entliält zur unmittelbaren Benutzung in meinem künftigen Werk über die Messung eigentlich nur ein paar Sätze, nämlicli:

1) was zur Berechnung des Exzesses der Summe der 3 Winkel über 180** in einem Dreiecke auf einer nicht sjihärischen Fläche, wo die Seiten kürzeste Tänien sind, erforderlich ist,

2j wie in diesem Fall der Exzess ungleich verteilt werden muss, damit die Sinus den Seiten gegenüber proj^ortional werden.

In praktischer Rücksicht ist dies zwar ganz unwichtig, weil in der Tat bei den grössten Dreiecken, die sich auf der Erde messen lassen, die Ungleich- heit in der Verteilung unmerklich wird; aber die Würde der Wissenschaft erfordert doch, dass mau die Natur dieser Ungleichheit klar begrtnfe. Und so kann man allerdings hier, wie öfters, ausrufen: Tantae nu)lis erat! um daliin zu gelangen. Wichtiger aber als die Auflösung dieser 2 Aufgaljen ist es, dass die Abhandlung mehrere allgemeine Prinzipien begründet, aus denen künftig, in einer speziellem Untersuchung, die Auflösung von einer Menge wichtiger Aufgaben abgeleitet werden kann« (W. IX, S. 378).

33.

Weitere Untersuchungen über krumme Flächen.

In der Selbstanzeige der Disq. gen. sagt Gauss, der Zweck der Abhand- hing sei, neue Gesichtspunkte für die Lehre von den krummen Flächen zu eröffnen und einen Tei,l der ueuen Wahrheiten, die dadurch zugänglich werden.

DIE .U,I,GKMEI>iE LEHRE VON DEN KRUMMEN KEÄCHEN. 1(J7

ZU entwickeln (W. IV, S. 34 1). Dass dort mir ein Teil der Ergebnisse, zu denen er gelangt war, dargestellt ist, wird auch in den Briefen an Bessel, Olbers und Schumacher ausgesprochen, die in der vorhergehenden Nummer angeführt sind, ja es wird einmal geradezu eine zweite Abhandlung über die krummen Flächen in Aussicht gestellt (Brief an Oebers vom 1. März 1827, W. IX, S. 377).

Auch in den Disq. (jen. finden sich Andeutungen über weitergehende Untersuchungen. So werden im art. 6 Erörterungen über die allgemeinste Auffassung des Inhalts von Figuren auf eine andere Gelegenheit verschoben. Ferner unterscheidet Gauss im art. 1 3 zwischen den Eigenschaften einer kiaimmen Fläche, die von ihrer gerade angenommenen Form abhängen, und jenen, die erhalten bleiben, in welche Form die Fläche auch gebogen wird. Hierfür nennt er das Krümmungsmass, die Lehre von den kürzesten Linien und einiges andere, dessen Behandlung er sich vorbehalte.

Zu den Gegenständen, die im art. 1 3 gemeint sind, gehört vor allem die »Seitenkrümmung« von Kurven auf krummen Flächen, die Gauss schon in der Zeit zwischen 1822 und 1825 eingehend untersucht hatte (W. VIII, S. 386— 395). Eine solche Kurve besitzt zunächst eine absolute Krümmung, die durch den reziproken Wert des auf die übliche Art erklärten Krümmungs- halbmessers gegeben wird. Wenn man aber den Krümmungshalbmesser in zwei Komponenten, nach der Flächennormale und senkrecht dazu, zerlegt, so werden in deren reziproken Werten die Masse der Normalkrümmung und der Seitenkrümmung gewonnen. Die kürzesten Linien auf der Fläche haben die Eigenschaft, dass ihr Krümmungshalbmesser in die zugehörige Flächennormale fällt, und ihnen kommt daher die Seitenkrümmung Null zu. Sie entsprechen auch in dieser Hinsicht den geraden Linien der Ebene, und in einer Geometrie der auf einer krummen Fläche liegenden Figuren, bei der an die Stelle der Geraden die Kürzesten treten, ist bei einer Kurve die re- lative Krümmung, das heisst das Verhältnis des geodätischen Kontingenz- winkels zum Linienelement der Kurve, gleich der Seitenkrümmung zu setzen. Bald nach dem' Erscheinen der Disq. gen. hat übrigens Minding ähnliche Auf- fassungen veröffentliclit ' .

Im Laufe der Untersuchung überträgt Gauss den Namen der Seiten-

1) F. Minding, Ühm- die Kurven kürzesten Perimeters mif Irinnmoi lläeheti, Cuki.i.ks Journnl, Bd. 5, I88U, S. 2!1-.

14*

108 STÄCKEI-, GAUSS ALS GEOMETER.

kxümiuung auf das über die Kurve erstreckte Integral der ursprünglichen Seitenkrümmung. Er hatte dabei wohl die Verallgemeinerung des Satzes von der Winkelsumme des geodätischen Dreiecks im Auge, die später von Bonnet augegeben worden ist'). Hiernach ist die Gesamtkrümnuing eines beliebigen auf einer krummen Fläche liegenden Dreiecks gleich dem Unterschiede der Winkelsumme gegen zwei Rechte, vermindert um das über die Begrenzung erstreckte Integral der Seitenkrümmung im ursprünglichen Sinne des Wortes).

Die Erklärung der kürzesten Linien als der Kiu-ven von der Seiten- krümmung Null ist auch insofern wichtig, als die Rechnungen, die Gauss daran anschliesst, einen Einblick in die Kunstgriffe gewähren, die ihn zu den eleganten Formeln im art. 22 der Disq. gen. gefülirt haben.

Ob Gauss die Geometrie der Figuren auf einer krummen Fläche noch weiter ausgebaut, ob er im besonderen den Zusammenhang zwischen der Geo- metrie auf den Flächen konstanten Krümmuugsmasses und der nichteuklidischen Geometrie der Ebene erkannt hat, ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden. Nahe genug musste er für jemand liegen, der schon J 794 wusste, dass dort das Verhältnis des Dreiecksinhaltes zu der Abweichung der Winkelsumme von zwei Rechten eine Konstante ist W. VIII, S. 266). Auch die Bemerkungen, dass die Untersuchungen über die krummen Flächen so vielfach in andere Teile der Mathematik eingriffen Brief an Bessel vom 20. November 1826, W. IX, S. 362), dass sie tief in die Metaphysik der Raumlehre eingriffen (Brief an Hansen vom 11. Dezember 1825, GAUSS-Archiv in Verbindung mit der Tatsache, dass Gauss bald nach Vollendung der Bisq. gen. die Untersuchungen über die Gi-undlagen der Geometrie wieder aufgenommen hat Brief an Bessel vom 27. Januar 1829, W. VIII, S. 200), lassen sich zu Gunsten einer solchen An- nahme geltend machen. Ferner wird in einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1846 (W. VIII, S. 257) die einer nichteuklidischen Geometrie eigentümliche absolute Konstante mit k bezeichnet, wo k die Quadratwurzel aus dem Krüni- mungsmass bedeuten würde. Bemerkenswert ist auch eine Wendung in einem aus demselben Jahre 1846 stammenden Briefe an Gerling: »Der Satz, den Ihnen Herr Schweikart erwähnt hat, dass in jeder Geometrie die Summe aller äussern Polygonwinkel von 360" um eine Grösse verschieden ist nämlich

i; O. BoN'NET, Memoires sur hi theurie ycnerale des surf'aces, Journal de 1 ccole polyteohnique, t. 1», cah. yz, l(i4»>, S. i:il.

DIE ALLGEMEINE LEHRE VON DEN KRUMMEN FLÄCHEN. 109

grösser als 360" in der Astralgeometrie, wie Schweikart sie aufgefasst hat), welche dem Flächeninhalt proportional ist, ist der erste, gleichsam an der Schwelle liegende Satz der Theorie, den ich schon im Jahr 179 4 als not- wendig erkannte« (Brief vom 2. Oktober 1846, W. VIII, S. 266); Gauss unter- scheidet also die Auffassung Sc hweikärts von der seinigen, bei der in jedem Falle die Winkelsumme des Dreiecks von 180" verschieden ist, sodass bei ihm neben die Geometrie, bei der die Winkelsumme kleiner als 180° ist, noch eine zweite tritt, bei der die Winkelsumme gi-össer als 180** wird. Wenn man beachtet, wie vorsichtig Gauss bei solchen Andeutungen zu Werk ging (vgl. S. 9), so wird man auch auf diese Stelle Gewicht zu legen haben.

Schliesslich verdient erwähnt zu werden, dass in einer spätestens 182 7 niedergeschriebenen Aufzeichnung die durch Drehung der Traktrix entstehende krumme Fläche negativen konstanten Krümmungsmasses (Pseudosphäre als das »Gegenstück der Kugel« bezeichnet wird (W. VIII, S. 265). Gauss er- wähnt die Pseudosphäre im Zusammenhang mit der Verbiegung von Dreh- flächen in Drehflächen. Aber noch mehr, die von ihm aufgestellten Formeln führen zu dem Satz, dass bei der Pseudosphäre und nur bei ihr) alle diese Drehflächen einander kongnient sind, und hierin liegt, dass man ein geodäti- sches Dreieck, unter Bewahrung dieser Eigenschaft, auf der Pseudosphäre ebenso verschieben kann wie ein sphärisches Dreieck auf der Kugel. Hat Gauss deshalb den Namen »Gegenstück der Kugel« gewählt? Jedenfalls hat er den krummen Flächen von negativem konstanten Ivrümmungsmass seine Aufmerksamkeit zugewendet. In den schönen Untersuchungen, die Min ding, angeregt durch die Disq. gen., angestellt hat, sind auch diese Ergebnisse über die Biegung der Drehflächen und über die Pseudosphäre enthalten').

Auf die Biegung krummer Flächen bezieht sich auch eine wahrscheinlich Ende 1826 niedergeschriebene kurze Bemerkung, in der Gauss die Beziehung, die bei zwei Biegungsflächen zwischen den sphärischen Abbildungen mittels paralleler Normalen besteht, zu einem Ansatz für die Lösung des allgemeinen Problems der Ab^vicklung krummer Flächen auf einander benutzt, der erst im Jahre 1900 aus dem Nachlass im achten Bande der Werke (S. 447 448)

1) F. Minding, Über die Biegung gewisser Flächen, Grelles Journal. Bd. is, isas, S. ar.?; Wie sieh entscheiden lässt, ob zwei gegebene krumme Flächen auf einander abwickelbar seien oder nicht, ebenda, Bd. i'j, I83'J, S. 378; Über die kiinesten Linien krummer Flächen, ebenda, Bd. lo, 1840, S. 324.

110 STÄCKEI,, (tAUSS als üEOMETEK.

veiöfFentlicht worden ist. Es wäre zu wünschen, dass dieser Gedanke, der Gauss eigentümlich ist. vollständig durchgeführt würde.

Zum Schluss sei noch berichtet, dass die philosophische Fakultät der Universität Göttingen im Jahre 1830 auf Veranlassung von Gauss die Preis- frage stellte: Determinetur inter lineas duo puncta jungentes ea, quae circa datum axem revoluta gignat superficiem minimam. Sie wurde von seinem Landsmann, Schüler und späteren Mitarbeiter auf der Sternwarte, (JoLDScuMiirr. beantw^ortet, dem auch der Preis /.ugefallen ist ').

33.

Bedeutung und Wirkung der Disquisitiones generales.

In den Disquisitiones generales wird nur ein Geometer mit Namen erwähnt : Euler. Fast alles, was dieser über die Krümmung der Oberflächen gelehrt habe, sagt Gauss im art. 8 der Disq., sei in den von ihm gegebenen Sätzen I bis IV enthalten; augenscheinlich sind Eulers 1763 verfasste Recherches sur la courhure des surfaces' gemeint. Die Untersuchungen von Gauss be- rühren sich aber noch in einer Reihe anderer Punkte mit denen Eulers, und wenn es auch unentschieden bleiben muss, ob Gauss die betreffenden Abhand- lungen gekannt hat oder nicht, so scheint es doch um so mehr angebracht, die Berührungspunkte festzustellen, als dadurch die Fortschritte, die wir Gauss verdanken, in ein helleres Licht treten.

Es möge zunächst an die in den vorangehenden Nummern erwähnten Ar- beiten Eulers zur konformen Abbildung, über die kürzesten Linien und über die Abwicklung krummer Flächen auf die Ebene erinnert werden. Für die kürzesten Linien kommen ausser der grundlegenden Abhandlung vom Jahre 1729 noch zwei Veröffentlichungen in Betracht. In der einen vom Jahre 1755 hatte Euler die Anfänge einer sphäroidischen Trigonometrie entwickelt, einer Lehre von den Dreiecken, deren Seiten kürzeste Innien eines Dreh- ellipsoides sind; auch hatte er vorgeschlagen, dass man solche Dreiecke in der Geodäsie benutzen solle ^). In der zweiten, erst 1806 gedruckten Ab-

1) B. Goldschmidt, Beterminatio superficiei minimae rotatione curvae data duo puncta jungmtis circa datum axem ortae, Göttingen I83i.

2; Histoire de l'Acad., annfee 1760, Berlin 1767, Memoires S. im.

:i) L. Edi,bu. EUmeiUs de la trigonomelrie spMroidique tires de la tiuHhodc des plus grands et plus petits, Histoire de l'Acad., ann^e 1753, Berlin 17.55, Mdmoireg S. 25S.

DIE ALLGEMEINE LEHRE VON DEN KRUMMEN FLÄCHEN. 111

handlung, die am 2 5. Januar 17 79 der Petersburger Akademie vorgelegt worden war. kommt er auf die allgemeine Lehre von den kürzesten Linien zurück und stellt deren Differentialgleichungen für den Fall auf, dass die krumme Fläche durch irgend eine Gleichung zwischen den kartesisclien Koordinaten gegeben wird, während man früher immer vorausgesetzt hatte, dass die Glei- chung nach einer Koordinate aufgelöst sei.

Die Einsicht, dass die drei kartesischen Koordinaten gleichberechtigt sind, kommt bei Euler aber auch dadurch zum Ausdruck, dass er bei den Unter- suchungen über die Abwicklung krummer 1 lachen die drei Koordinaten so- gleich als Funktionen zweier Hilfsgi'össen ansetzt. Wie Kommerell mit Iteclit bemerkt ' , liegt hierin der erste Schritt zu der Auffassung der krummen Flächen als selbständiger Gebilde, (He erst G.iuss mit vollem Bewusstsein ihrer Bedeutung durchgeführt hat. Ebenso hat Gauss, geleitet von dem allge- meinen Begriff der xlbbildung, jene Parameterdarstellung zur Grundlage seiner allgemeinen Untersuchungen über die krummen Flächen gemacht.

Endlich ist eine 1 77 5 verfasste, 17 86 gedruckte Arbeit über Ra\imkiu-ven ■) zu erwähnen, in der Ecler die Eigenschaften solcher Kurven in der Umgebung eines Punktes untersucht, indem er durch den Mittelpunkt der Einheitskugel Parallelen zu den Tangenten zieht, ganz ähnlich wie Gauss im art. 2 der Neuen allgemeinen Untersuchungen bei ebenen Kurven den Einheitskreis ver- wendet. Bei Gauss findet sich, wie schon erwähnt wurde, die Beziehung der Richtungen im Räume auf die Punkte der Einheitskugel schon in einer auf das Ende des Jahres 1799 zu setzenden Notiz i^Scheda Ac, Varia, begonnen Nov. 1799, S. 3). In der Selbstanzeige der Disq. gen. sagt Gauss: »Dies Ver- fahren kommt im Grunde mit demjenigen überein, welches in der Astronomie in stetem Gebrauch ist, wo man alle Richtungen auf eine fingierte Himmels- kugel von unendlich gi'ossem Halbmesser bezieht^' VV. IV, S. 342'; man darf daher annehmen, dass der Gedanke der Abbildung auf die Einheitskugel (Himmelskugel; der Astronomie seinen Ursprung verdankt.

Die Abbildung einer krummen Fläche auf die Einheitskugel mittels

1) M. C.U.-TÜR, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, Bd. IV, Leipzig mos, Abschnitt XXIV: Ko.MMERELL, Analytische Geometrie des Baumes und der Ebene, S. 519.

2) L. Euler, Methodus facilis omnia symptomata linearum curvaritm non in codem piano silarim investigandi, .\cta Petrop., t. n pro anno 17S2: I, I78ü, S.

19. ;i7

112 STÄCKEL, GAUSS ALS GKOMETp;U.

paralleler Normalen ist schon vor Gauss betrachtet und mit der Lehre von den Doppelintegralen in Zusammenhang gebracht worden, und zwar von (). Ro- DRiGUES in einer 1815 veröffentlichten Abhandlung'', ganz ähnlich wie es Gauss selbst in einer Notiz über die Oberfläche des dreiachsigen Ellipsoidcs tut, die wohl bald nach 1813 verfasst ist (W. VIII, S. 367). Rodrigues hat auch schon erkannt und genau auf dieselbe Weise wie Gauss im art. 7 der Disq. gen. bewiesen, dass das Verhältnis der Abbildung eines Flächen elementes auf die Einheitskugel zu dem Flächenelement gleich dem Produkte der zugehörigen Hauptkrümmungen ist. Er folgert daraus, dass das Doppelintegral, das Gauss als Gesamtkrümmung eines Flächenstückes bezeichnet hat, den Inhalt der Area auf der Kugelfläche angibt, die durch jene Abbildung erhalten wird, und da einer geschlossenen Fläche die ganze, einfach oder mehrfach bedeckte Obei-fläche der Kugel entspricht, so ergibt sich der Wert des zugehörigen Doppelintegrales gleich einem positiven oder negativen Vielfachen von 27:.

Auf einen zweiten Geometer wird in den Neuen allgemeinen Unter- suchungen und in den Disq. gen. hingedeutet. Auf Monge bezieht sich näm- lich die Bemerkung, dass die partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung für die auf die Ebene abwickelbaren Flächen ))bisher nicht mit der erforder- lichen Strenge bewiesen war« 'W. IV, S. 344; vgl. W. IV, S. 237 und VIII, S. 437). Dass es sich um Monge handelt, ergibt sich aus dem Briefe an Olbers vom Juli 1828 (W^. VIII, S. 444)*); Gauss sagt hier mit Recht, dass bei Monge das Vorhandensein gerader Linien, nach denen die Fläche gebrochen wird, erschlichen sei. Im übrigen haben die Untersuchungen des französischen (ieometers, die mehr die Untersuchung besonderer Flächenklassen betreffen, auf Gauss keinen Einfluss gehabt, und dasselbe gilt auch für dessen Dar- stellende Geometrie, die Gauss 1813 mit anerkennenden Worten besprochen hat (W. IV, S. 3 59).

Wenn man noch die Anregung hinzunimmt, dass Gauss durch das Le- GENDREsche Theorcm über die Zurückführung der kleinen sphärischen Dreiecke

1) O. E.0DRIGUE5, Sur quelques propriites des integrales doubles et des rayons de courhure des sur- faees, Correspondance sur l'ficole polytechnique, t. 2, 1816, S. in2; abgedruckt im Bulletin de la 8oci6t6 philomatique, annee 1815, S. 34; vgl. P. Stäckel, Bemerhmgen zur Oeschichte der geodätischen Linien, Leipziger Berichte 189 3, S. 46fi.

2) Der darin erwähnte, »ungezogene Ausfall« von Fayolle steht ito Philosophical Magazine, new series, vol. *, London 1828, S. 430; er ist abgedruckt im Briefwechsel G.-O., 2, S. sos.

DIE AIl.GEMEINK LEHRE VON OKN KRUMMEN FLÄCHEN. 113

auf ebene Dreiecke erfahren hat, so ist alles erschöpft, was sicli aus der Zeit vor 182 7 mit seinen Forschungen über die allgemeine Lehre von den krummen Flächen in Zusammenhang bringen lässt, teils auf deren Gang einwirkend, teils nur im Strom der Entwicklung auftauchend und wieder untergehend.

Wie gross der Eindruck war, den die Disq. gen. sogleich bei ihrem Er- scheinen machten, geht aus den Briefen von Bessel und Schumacher hervor. Mit den daran anknüpfenden, bedeutenden Arbeiten Mindings beginnt eine lange Reihe von Arbeiten, deren Ausgangspunkt die Untersuchungen von Gauss bilden. Es muss jedoch hier genügen, einige noch nicht erwähnte Abhand- lungen herauszugreifen, die in besonders engen Beziehungen zu den Disq. gen. stehen, und die Wirkung der Grundgedanken auf die weitere Entwicklung in aller Kürze zu schildern; dabei soll die Geodäsie ganz aus dem Spiele bleiben und für sie auf den schon erwähnten Aufsatz von Galle verwiesen werden.

Schon EuLER hatte in seiner Abhandlung über die Krümmung der Flächen nach einem passenden Masse f juste mesure) für die Krümmung solcher Gebilde gefragt, einem Masse, das sich der Krümmung der Kurven an die Seite stellen lasse, und unter Hinweis auf die Sattelflächen erklärt, dass es auf diese Frage keine einfache Antwort gebe; man müsse vielmehr die Gesamtheit der Krüm- mungen in Betracht ziehen, die den zu einem Punkte gehörigen Normal- schnitten zukommen \ Später war bei Untersuchungen über biegsame Flächen, besonders über die Gestalt von Flüssigkeitshäutchen, das arithmetische Mittel der beiden Hauptkrümmungen aufgetreten, das schon in der von Lagrange (1765) begründeten Lehre von den Minimalflächen eine Rolle spielte. Sophie Germain hat dafür 1831 den Ausdruck mittlere Krümmung vorgeschlagen'-' ; In einem Briefe an Gauss vom 28. März 1829 bemerkt sie, dieser verfahre geometrisch, sie selbst mechanisch, denn die elastische Kraft, welche die Fläche

1) Diese richtige Einsicht hat Euler nicht davor bewahrt, bald darauf, l76!i, in der Dioptrien (Lib. I. § 4, Opera omnia, ser." 3, vol. :i, S. H) zu behaupten, ein Flächenelement lasse sich stets als sphärisch ansehen, und damit in einen Fehler zurückzufallen, den schon Leihmz begangen hatte [Brief an Jon. Bernoulli vom 2!). Juli 1698, Commercium epistoUcum, liausanne und Genf 1745, t. i, S. :i87, LEIHNlzens Matlicmatische Schriften, herausgegeben von C. J. Gerh.\kdt, i. Abt., Bd. a, Holle 185.'), S. 526). Auch dAle.m beut, hat sich dieses Fehlers schuldig gemacht (x\rtikel Surfaces eourbes in der Encyclopedie methodique, Abteilung Mathematik, Bd. II, Paris 1784, S. 464).

2) S. Germ.'VIN, Memoire sur la courbwe des surfaces, Crelles Journal, Ud. 7, ih;ii. S. i. X2 Abh. 4. ir>

114 STÄCKKL, GAUSS ALS (JKOMETF.U.

in ihre ursprüngliche Gestalt zurücktreibt, sei der mittleren Krümmung pro- portional Brief im Gauss- Archiv). Nach Sturm') lässt sich die mittlere Krümmung auf eine ähnliche Art wie das GaussscIic Krümmungsmass er- klären; beschreibt man nämlich um einen Flächenpunkt eine Kugel und bildet die in die Fläche eingeschnittene Kurve mittels paralleler Normalen auf die Einheitskugel ab. so ist der Grenzwert des Verliältsnisses der Umfange beider Kurven gleich der mittleren Krümmung. Später hat C-asorati"') das Wort »Krümmung« beanstandet, weil man aiich den Flächen vom GAUSsschen Krüm- mungsmasse Null eine gewisse Krummheit zuschreiben müsse, und als ein der Anschauung besser entsprechendes Mass das arithmetische Mittel der Quadrate der Hauptkrümmungen vorgeschlagen. »Demgegenüber ist zu bemerken, dass es für eine Fläche überhaupt keinen Ausdruck geben kann, der dem für die Krümmung einer Kurve völlig entsprechend und zugleich erschöpfend wäre. Es lassen sich vielmehr von verschiedenen Gesichtsj^unkten aus für die Flächen- krümmung mehr oder minder kennzeichnende Ausdrücke aufstellen, die eben- falls als Grenzwerte anzusehen sind«^). Jedenfalls hat sich unter ihnen der GAUSSsche Ausdruck durch die Fruchtbarkeit seiner Anwendungen ausgezeichnet. Im Laufe der Zeit hat sich immer klarer die Wichtigkeit der Formeln im art. 1 1 der Disq. gen. herausgestellt, vermöge deren die zweiten Ableitungen der kartesischen Koordinaten eines Punktes der Fläche als lineare homogene Funktionen der ersten Ableitungen und der llichtungscosinus der Normalen dargestellt Averden. Weingarten hat gezeigt, wie man aus ihnen fast unmittel- bar die bei dem Biegimgsjnoblem auftretende partielle Diff'erentialgleiclumg zweiter Ordnung füi' eine der kartesisclien Koordinaten ableiten kann*). Auf dem von Gauss gebalmten Wege weitergelicnd, liabeu Mainardi"") und ('ouazzi")

1) li. Sturm, Kin Analogon zu Gauss' Satz vcni der Krümmung der Flächen, Matliemat. Auimk-ii, Bd. 21, 1883, S. 37».

2) F. Casorati, Mesure de la courbure des surfaces siiivant i'idee commune, Acta math. 14, 1890, S. 06; vgl. auch K. v. Lilie.nthal, Zur Theorie des Krümmungsmasses der Flächen, ebenda, 16, 1892, S. I4S.

3) R. V. Lilie.nthal, Die auf einer Fläche gezogenen Kurven, Encyklciiädie der mathematischen Wissenschaften, Bd. III, Teil 3, S. 172 (1902).

4) J. Weingarten, Über die Tliemie der auf einander abwickelbaren Oberflächen, Festschrift der Technischen Hochschule zu Berlin, 18S4.

5) Mainardi, Su la teoria generale delle superficie, Giornale dell'lstituto lombardo, t. 9, 1857, S. 394.

6) D. Codazzi, Sülle coordinate curvilinee d'una superficie e dello spazio, Ann. di mat. (2), i, 1867, S. 293; 2, 1808, S. 101, 269; Mimoire relatif ä l'applicalion des surfaces les unes sur les atäres, Mem. pr6s. par divers sav., 2. s^rie, t. 27, Paris 1S83 (vorgelegt 1859).

DIE ALLGEMEINE LEHRE VON DEN KRÜMMEN FLÄCHEN. 115

der GAUSSSchen Gleichung zwischen den Fundamentalgrössen erster und zweiter Ordnung zwei Gleichungen hinzugefügt, in denen auch noch die ersten par- tiellen Ableitungen der Fundamentalgi-össen zweiter Ordnung auftreten, und Bonnet'] hat bewiesen, dass umgekehrt durch solche Fundamentalgrössen erster und zweiter Ordnung, die den drei Fundamentalgleichungen genügen, die Fläche, abgesehen von ihrer Lage im Räume und einer Spiegelung, voll- ständig bestimmt wird.

Schliesslich mögen noch Untersuchungen erwähnt werden, die bei Leb- zeiten von Gauss angestellt worden sind imd eine Verallgemeinerung seines Lehrsatzes über die Winkelsumme eines geodätischen Dreiecks bezweckten. Jacobi" hat im Jahre 183 6 den Satz auf Dreiecke ausgedehnt, die von be- liebigen Raumkurven gebildet werden, wobei nur vorausgesetzt werden muss, dass in den Ecken die beiden sich schneidenden Kurven dieselbe Hauptnormale haben; die Abbildung auf die Einheitskugel erfolgt mittels der Hauptnormalen der Kurven, die ja bei den geodätischen Linien mit den Normalen der Fläche zusammenfallen. Er hat dafür einen von dem GAUssschen Lehrsatze unab- hängigen, einwandfreien Beweis gegeben. Bedenklich war jedoch eine Be- merkung, die er dem Beweis vorausschickte, dass nämlich die Verallgemeinerung des GAUssschen Lehrsatzes sich ohne Mühe isine negotio" ergebe, wenn man beachte, dass jede Raumkurve als geodätische Linie einer gewissen Fläche angesehen werden dirrfe. Dies stimmt zwar für eine einzelne Raumkurve, allein es ist, wie Clausen') zeigte, im Allgemeinen bereits unmöglich, eine krumme Fläche zu bestimmen, die zwei sich in einem Punkte schneidende und dort dieselbe Hauptnormale besitzende Raumkiuven als geodätische Linien in sich fasst^;. In seiner Erwiderung'^ gibt Jacobi, »um einige unbegi-ündeten

i; O. Bonnet, Memoire sur la theork des sttrfaees applicables sttr «we surface donnee, Journal de l'ecole polytechnique, t. 25, cah. 4'J, 1887, S. 31.

2) C. G. J. Jacobi, Demonstratio et amplificatio nova theorematis Gaussiani de eurvatura integra Iriangvli in data s^iperficie e lineis brevissimis formati, Grelles Journal, Bd. i«, is.iT, S. 344; Werke, Bd. 7, S. 26.

3) Th. Claüsen, Berichtigutig eines von Jacobi aufgestellten Theorems, .\stron. Nachrichten, Bd. 20, Nr. 457 vom 29. Sept. 1842.

4 Vgl. auch die Briefe von Schumacher an Gauss vom i.Sept, ;i. Nov. und i Bei. 1842 und dessen Antwort vom 3. Sept. 1842, Br. G.-ScH. IV, S. 82, 92, loi, 83.

5) C. G. J. Jacobi, Über einige merkwürdige Curventhcoreme, .\stron. Nachrichten, Bd. in, Nr. 46» vom 15. Dez. 1S42; Werke, Bd. t, S. 34.

15*

116 STÄCKEL, GAUSS AI.S GEOMETER.

Zweifel über die Richtigkeit des Theorems zu beseitigen«, einen vereinfachten Beweis und bemerkt nebenbei, aus den Darlegungen von Clausen folge, dass sein Theorem allgemeiner als das GAusssche sei, womit er stillschweigend jene Bemerkung (sine negotio) preisgibt.

^^^ir wenden uns nunmehr zu den AVirkungen. die die Disquisitiones generales circa superficies curvus vom Jahre 1828 im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts ausgeübt haben. Wenn man die gesamte Entwicklung der mathematischen Wissenschaften während dieses Zeitraums ins Auge fasst, so sind es zwei Punkte, in denen die Untersuchungen von Gauss zur Flächen- theorie entscheidend eingegriflFen haben. Erstens ist Gauss, während man bis dahin in der Geometrie nur endliche Gruppen von Transformationen betrachtet hatte, dazu übergegangen, eine unendliche Gruppe (im Sinne von S. Lie) zu Grunde zu legen, zweitens hat er die Lehre von den krummen Flächen als die Geometrie einer zweifach ausgedehnten Mannigfaltigkeit in einer Weise behandelt, die der allgemeinen Lehre von den mehrfach ausgedehnten Mannig- faltigkeiten den Weg bahnte.

F. Klein') hat das allgemeine Problem der geometrischen Forschung mit den Worten formuliert: »Es ist eine Mannigfaltigkeit und in ihr eine Trans- formationsgiuppe gegeben. Man entwickle die auf die Gruppe bezügliche Invariantentlieorie.« Nachdem die Gruppe der Bewegungen und Spiegelungen den Ausgangspunkt der geometrischen Forschung gebildet hatte, war man zu den Gruppen linearer Transformationen übergegangen, die der projektiven Geometrie eigentümlich sind, und hatte auch andere endliche Gruppen, wie die der Transformationen durch reziproke Radien, herangezogen. Ein Ansatz zur Betrachtung unendlicher Gruppen war allerdings schon in der Geometria Situs gemacht worden, aber die Fragestellung war hier zu allgemein, als dass man Anhaltspunkte für weitere Untersuchungen hätte gewinnen können; ergeben sich doch als Invarianten lediglich ganze Zahlen. Dagegen haben die Trans- formationen der binären quadratischen Ditferentialformen zu einer reich- gegliederten Invariantentheoiie geführt. Das GAUsssche Krümmungsmass ist das erste Glied in der Kette solcher Invarianten. Ihm gesellt sich sogleich, als Beispiel kovarianter Bildungen, die Seitenkrümmung hinzu. Auch findet

i; F. Klein, Vergleichmde Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen, Programm, Urlangen \^ii, Math. Annalen, Ud. 4:!, IN113, S. 1.7, Geüammeltt Mathem. Abhandlungen I, 11121, S. 460.

DIE ALLGEMEINE LEHRE VON DEN KRUMMEN FLÄCHEN. 117

sich im art. 2 1 der Disq. gen. bei der Lehre von den geodätischen Linien schon der Differentialparameter erster Ordnung. Für die Weiterfiihrung nach der Seite der Flächentheorie ist besonders Minding zu nennen'. Unter- suchungen aus der theoretischen Physik veranlassten liAME'i bei krummlinigen Koordinaten für Punkte des EuKLioischen Raumes die Differentialparameter erster und zweiter Ordnung aufzustellen, und nachdem im .Jahre 1867 Rie- MANNS Habilitationsvortrag vom 10. Juni 1854: Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen, veröffentlicht worden war, hat Beltrami^) die allgemeine Lehre von den Differentialparametern quadratischer Differential- formen mit beliebig vielen Veränderlichen entwickelt. Gleichzeitig damit sind die Untersuchungen von Christoffel "*) und Lipschitz *) über die Transformation solcher Differentialformen. Damit wurde der Forschung ein Feld erschlossen, das noch heute nicht abgeerntet ist.

Mit der Verallgemeinerung auf beliebig viele Veränderliche kommen wir zu dem Gesichtspunkt der mehrfach ausgedehnten Mannigfaltigkeiten.

Für Gauss hatten die mehrdimensionalen Räume eine metaphysische Be- deutung. Es handelt sich hier um Spekulationen, die im 18. Jahrhundert weit verbreitet waren und die auch ins 19. hinüberreichen*). »Gauss, nach seiner öfters ausgesprochenen innersten Ansicht, betrachtete die drei Di- mensionen des Raumes als eine spezifische Eigentümlichkeit der menschlichen Seele; Leute, welche dieses nicht einsehen könnten, bezeichnete er einmal in seiner humoristischen Laune mit dem Namen Böoter. Wir können uns, sagte er, etwa in Wesen hineindenken, die sich nur zweier Dimensionen bewusst

1) F. Minding, Wie sich entscheiden lässt, ob zwei gegebene krumme Flächen auf einander abwickelbar seien oder nicht, Grelles Journal, Bd. 19, isn.i, S. 3:0.

2) G. Lame, Legons sur les fonctions transcendantes et sur les surfaces isothennes, Paris is.it.

3) E. Beltrami, Su!}4. i^orica generale dei paranietri differenziali, Memorie deU'Acc. di Bologna, zweite Reihe, Bd. 8, 1869, S. 551, Opere matematiche II, S. 74.

4) E. B. Christoffel, Über die Transformation der homogenen Ditf'ercntialausdrücke zweiten Grades, Journal f. r. u. a. Math., Bd. 70, 1869, S. 46; Gesammelte mathematische Abhandlungen, Bd. I, S. 352.

5) R. Lipschitz, Untersuchungen in Betreff der ganzen homogenen Funktionen von n Differentialen, Journal f. r. u. a. Mathematik, Bd. 70, iSfiii, S. 71, Bd. 71, iS7o, S. 271, 2S8, Bd. 72, I87U, S. i; Bemer- kungen zu dem Prinzip des kleinsten Zwanges, ebenda, Bd. s2, 1877, S. sii; lim Anschluss an Riemanns 187 6 veröffentlichte Pariser Pieisarbeit vom Jahre isiM'.

6) Man vgl. etwa F. Zöllner, Naturwissetischaft und christliche Offenbarung, Leipzig issi, sowie die zahlreichen Veröffentlichungen von H. Scheffleu in Braunschweig.

118 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

sind; höher über uns stehende würden vielleiclit in ähnlicher Weise auf ims herabblicken, und er habe, fuhr er scherzend fort, gewisse Probleme hier bei Seite gelegt, die er in einem höhern Zustande später geometrisch zu behandeln gedächte« (Sartorius, S. 81). Solche Gedanken reichen wohl bis in die Jugend zurück, denn in dem Briefe an Grassmann vom 11. Dezember 1844 (W. Xi, S 436) sagt Gauss, dessen Tendenzen in der Ausdehnungslehre begegneten teilweise den Wegen, auf denen er selbst nun seit fast einem halben Jahr- hundert gewandelt sei; dabei beruft er sich auf die Selbstanzeige vom Jahre 1831, an deren Schluss von »Mannigfaltigkeiten von mehr als zwei Dimensionen« gesprochen wird (W. II, S. 178). Auch zeigt der Brief Wächters an Gauss vom 12. Dezember 1816 (W. Xi, S. 481), dass bei dessen Besuch im April 1816 von Räumen mit beliebig vielen Abmessungen die Rede gewesen war.

Die Äusserung von Gauss, über die Sartorius berichtet hat, fällt in die Zeit zwischen 1847 und 1855. Dass Gauss sich gerade in den letzten Jahren seines Lebens eingehend mit mehrfach ausgedehnten Mannigfaltigkeiten be- schäftigt hat, lässt auch eine Stelle in den Beiträgen zur Theorie der alge- braischen Gleichungen vom Jahre 1849 erkennen: »Im Grunde gehört der eigentliche Inhalt der ganzen Argumentation [beim Beweise der Wurzel- existenz] einem höhern, von Räumlichem unabhängigen Gebiete der allge- meinen abstrakten Grössenlehre an, dessen Gegenstand die nach der Stetigkeit zusammenhängenden Grössenkombinationen sind, einem Gebiet, welches zur Zeit noch wenig angebauet ist und in welchem man sich auch nicht bewegen kann ohne eine von räumlichen Bildern entlehnte Sprache« (W. III, S. 79). In einer bald darauf, im Wintersemester 1850/51, gehaltenen Vorlesung über die Methode der kleinsten Quadrate hat Gauss Gelegenheit genommen, seinen Zuhörern einige Gedanken über solche »Mannigfaltigkeiten von mehreren Dimensionen«, allerdings unter Beschränkung auf die verallgemeinerte Mass- bestimmung des Euklidischen Raumes, mitzuteilen (W. X i, S. 473 481)').

Die von Gauss begehrte Lehre von den nach der Stetigkeit zusammen- hängenden Grössenkombinationen hat bekanntlich Riemann in seinem Habili- tationsvortrage vom in. Juni 1854 begründet; er hat sich dabei für die Kon- struktion des Begriffes einer m-fach ausgedehnten Mannigfaltigkeit ausdrücklich

t) V<;1. P. Stäckel, Eine von Gauss gestellte Aufgabe des Minimums, Heidelberger Berichte. Jalir- j^ang 1917, 1 1. Abhandlung.

niE ALLGEMEINE LEHRE VON PEN KRUMMEN FLÄCHEN. 119

auf die vorher genannten Veröffentlichungen von Gauss {Selbstanzeige vom Jahre 1831, Beiträge zur Theorie der algebraischen Gleichungen vom Jahre 1849) berufen und bei der weiteren Untersuchung über die in den Mannig- faltigkeiten ^^•altenden Massverhältnisse als Grundlage die Disquisitiones gene- rales circa superficies curvas bezeichnet. Durch Riemann haben also die Ge- danken, deren Keime sich in der GAUSSschen Abhandlung finden, ihre volle Entfaltung erfahren. In den folgenden Jahrzehnten hat sich die Bedeutung dieser Gedanken in immer höherem Masse herausgestellt, nicht allein für die Mathematik, sondern auch für die analytische Mechanik und schliesslich für die Grundlagen der theoretischen Physik.

34.

Bibliographischer Anhang.

Die von Gauss Ende 1S22 au die Kopenhagener Societiit der WiBsenschaften eingesandte Abhandlung über die Abbildung krummer Flächen hatte zwar den Preis erhalten, allein die Gesellschaft Qberliess es den Preisträgern, für die Veröffentlichung zu sorgen, und so ist die Preisschrift erst 1S25 im dritten und letzten Heft der Ton Schimacher als Ergänzung der Astronomischen Nachrichten herausgegebenen Astro- nomischen Abhandlungen erschienen. Sie ist abgedruckt in den Werken, Bd. IV, 1873, 2. Abdruck isso, S. 18a— 216. Eine Übersetzung ins Englische, wahrscheinlich von Francis Baily (1704—1844), ist 1S2S erschienen :

General Solution of the problem: to represent the parts of a gi\en surface on another given surface, so that the smallest parts of the representation shall be similar to the corresponding parts of the surface represented. By C. F. Gauss. Answer to the Prize Question proposed by the Royal Society of scieni-es at Copenhagen. The philosophical magazine, new aeries, vol. l, London 1828, S. 104 113, 206 2is.

Im Jahre l»'.i4 ist die .\bhandlung von A. WangerIN neu herausgegeben worden; sie findet sicli im Hefte 5 5 von Ost WALDS Klassikern der exakten Wissenschaften ; Über Kartenprojection, Abhandlungen von Lagrange [1779) und Gauss (is22), Leipzig isy4, S. 57 si.

Die Abhandlung über die allgemeine Lehre von den krummen Flüchen hat Galss am s. Oktober l!>27 der Göttinger Societät vorgelegt. Eine von Gauss selbst verfasste Anzeige erschien am 5. No\ember

1827 in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen, Stück 177, S. i7iu 1768; sie ist abgedruckt in den Werken, Bd. IV, S. 341 .147. Eine Übersetzung der Selbstanzeige ist schon lS2'.i von Francis Baily her.ius- gegeben worden ; '

Account of a paper by Prof. Gauss, intitled: Disquisitiones generales circa superficies curvas, com- municated to the Royal Society of Göttingen on the sth of october IS27, The philosophical magazine, new series, vol. 3, London ls-.!S, S. 331 336.

Man vgl. hierzu den Brief von Olbeks an Gauss vom 2. Juli 1828 und dessen Antwort Ende Juli

1828 (Br. G.-O. 2, S. 508, 511, zum Teil abgedruckt AV. VIII, S. 444—445).

Die Abhandlung selbst ist 182 8 in den Denkschriften der Göttinger Societät erschienen: (1) Disquisitiones generales circa superficies curvas, auctore Carolo Fkiderico Gauss, Societati regiae oblatae d. s. Octob. 1827. Commentationes societatis regiae scientiarum Gottingensis recentiores, Commen- tatioues classis mathematicae. T. VI (ad annos 1823-1817), Gottingae 182S, S. on— l4ii.

120 STÄCKEL, GAUSS ALS GEOMETER.

Es gibt Sonderabzüge mit den Seitenzahlen i bis so vind einer besonderen Titelseite, die den Ver- merk: Güttingae, T)i>is Dieterichianis, 182S trägt.

Der lateinische Text wurde in der fünften, von LlouviLLK besorgten Ausgabe des Werkes : G. MONGE, Application de l'analyse ä la g^ometrie, Paris 1850, S. 505 546 abgedruckt unter dem Titel:

(2) Kecherches sur la theorie g^n^rale des surfaces courbes, par M. C. F. Gai'ss. Es folgen zwei Übersetzungen ins Französische :

(3) Kecherches generales sur les surfaces courbes par M. Gauss. Traduit du latin par M. T[IBURCE] A[badie], ancien eleve de l'Ecole pohtechnique, Nouvelles annales de mathtoatiques, t. 11, Paris 1852, S. 195— 25S.

(4) Kecherches g6n6rales sur les surfaces courbes, par M. C. F. Gauss, traduites en francais, suivies de notes et d'6tudes sur divers points de la theorie des surfaces et sur certaiues classes de courbes, par M. E. KOOER, Paris i»5S.

Nach H. D. Thompson (siehe Nr. 11) ist von [i) eine weitere Ausgabe Grenoble l87u, Paris 187 1 erschienen.

(5) Die Werke von Cari. Friedrich Gauss, herausgegeben von der Königlichen Gesellschaft der Wissen- schaften in Göttingen bringen die Disq. gen. im vierten Bande, Göttingen 1873, S. 217 25S; ein zweiter, unveränderter Abdruck ist l>>80 herausgekommen.

Es gibt zwei l.'bersetzungen ins Deutsche. Die erste ist ein Teil des Werkes: O Böklen, Analy- tische Geometrie des Raumes, zweite Auflage, Stuttgart 1S84, dessen zweiter Teil den Doppeltitel führt:

(6) Disquisitiones generales circa superficies curvas von C. F. Gauss, ins Deutsche übertragen, mit An- wendungen und Zusätzen. Die FRESNELsche Wellenfläche.

Die Übersetzung steht S. la? 232. Die erste Auflage, Stuttgart 1861, enthält die Übersetzung der Disq. gen. noch nicht.

Zweitens ist zu nennen :

(7) Allgemeine Flächentheorie (Disquisitiones generales circa superficies curvas) von Carl Friedrich Gauss (I82"). Deutsch herausgegeben von A. Wangerin. Heft 5 von Ostwalds Klassikern der exakten Wissenschaften, Leipzig iss9, «2 S. ; zweite revidierte Auflage, Leipzig 1900, «4 S.

In den Budapester Mathematisch - physikalischen Blättern hat Nikolaus Szi'j.4rtc) eine Übersetzung ins Magyarisclie veröö'entlicht :

(8) A felületek ältalänos elmelete. Irta Gauss KXroly Frigyes. Forditotta Szi'järtÖ Miklös. Mathe- matikai es phyaikai lapok, Band c, Budapest 1897, S. 45 114.

Eine Übersetzung ins Englische enthält das Buch :

(9) Karl Friedrich Gauss, General investigations of curved surfaces of 18J7 and 1825. Translated with notes and a bibliography by J. C. Morehead and A. M. Hiltküeitel. The Princeton University Library, 1902.

Die Einleitung von H. D. Thompson gibt bibliographische Notize< ^ Es folgt S. 1 44 die Über- setzung der Disq. gen. Beigegeben sind Übersetzungen der Selbstanzeige und der tuuu im achten Bande der Werke aus dem Nachlass herausgegebenen Neuen allgemeinen Untersuchungen über die krummen Flächen.

SCHLUSSBEMERKUNG. 121

SCHLUSSBEMERKUNG.

Kurze Zeit nach dem Abdruck der vorstehenden Abhandlung in den Materialien für eine toissen- schaflliche Biographie ton Gauss, wurde der Verfasser Paul Stäckel aus voller Schaffenskraft durch einen jähen Tod der "Wissenschaft; entrissen. Seine grossen Verdienste um die Weiterführung der G.\issausgabe vom VIII. Bande an und um die würdige Schilderung der Leistungen von Gauss auf den verschiedenen Gebieten der Mathematik erfahren mit dem hier wiedergegebenen Aufsatz ihre Krönung. Als es sich nun darum handelte, Stäckels Abhandlung über Gauss als Geometer in den Band X i der Werke einzufügen, konnte nur ein in allem Wesentlichen unveränderter Wiederabdruck aus den Materialien in Frage kom- men. Der Unterzeichnete hat im Vereine mit FRIEDRICH Engel eine sorglaltige Durchsicht der Arbeit des dahingegangenen Freundes vorgenommen, wobei sich nur an einigen Stellen geringfügige Änderungen als erforderlich erwiesen haben. Es ist uns aber bekannt, dass Stäckel selbst die Absicht hatte, beim Wiederabdruck seines Aufsatzes in den Werken einen Punkt näher z>i erörtern, den völlig aufzuklären ihm bei der Abfassung noch nicht gelungen war. Es handelt sich nämlich darum, welche Bedeutung G.\uss der Ausmessung des Dreiecks Brocken, Hohenhagen, Inselsberg in bezug auf die Fr^e beigelegt hat, ob man die Euklidische oder eine nichteuklidische Geometrie als theoretische Grundlage für die Messungen auf der Erde und am Himmel anzunehmen habe. Da sich im Nachlasse St.Kckels keine Aufzeichnung über diese Frage gefunden hat, so müssen wir uns damit begnügen, diejenigen Stellen aus Sartorius von Waltershacsens Schrift Gauss zum Gedächtnis hier wiederzugeben, die sich darauf beziehen.

Sartorius, S. 53.

». . . Das Heliotrop fand sogleich bei der Hannoverschen Triangulation seine volle Anwendung und das grosse Dreieck, ^^elleicht das grösste, welches gemessen worden ist. nämlich zwischen dem Brocken, dem Inselsberg und dem Hohenhagen, wurde mit Hilfe desselben so genau gemessen, dass die Summe der drei Winkel nur um etwa zwei Zehnteile einer Sekunde sich von zwei Rechten entfernt.«

Sartorius, S. 81.

». . . Die Geometrie betrachtete Gauss nur als ein konsequentes Gebäude, nachdem die Parallelentheorie als Axiom an der Spitze zugegeben sei; er sei indes zur Überzeugung gelar^*"; dass dieser Satz nicht bewiesen werden könne, doch wisse man aiis.^'^or Erfahrung, z. B. aus den Winkeln des Dreiecks Brocken, Hohenhagen. Inse.sberg, dass er näherungswciso richtig sei. Wolle man dagegen das genannte Axiom nicht zugeben, so folge daraus eine selb- ständige Geometrit-. die er gelegentlich ein Mal verfolgt und mit dem Namen Antieuklidische Geometiie bezeichnet habe.«

Hierzu ist noch die oben S. 33 abgedruckte Stelle aus Gauss' Brief an Tairinis vom i. November 18J4 zu vergleichen. Schlesinger.

X2 Abb. 4. 16

Inhaltsverzeichnis.

1. Einleitung Seite 3

I. Die Grundlagen der Geometrie.

2. Allgemeines über die Arbeitsweise von Gauss «

A. Von den Anfängen der nichteuJclidischeH Geometrie bis zur Entdeckung der transzendenten Tri- gonometrie (1793—1817).

;t. Einleitendes. Die Jugendzeit (1792 17ii5) 17

4. Fortschritte in den Grundlagen der Geometrie (t7iis 1799) 19

5. Schwanken und Zweifel (1799 1806) 2.s

(i. Die Entdeckung der transzendenten Trigonometrie (1805 1817) 28

li. Der Aushau der nichteuklidischen Geometrie (seit 1817).

-,. Die Zeit der Geodäsie und der Flächentheorie; Schweikart und Taueinus (1817— IS31) 31

8. Die weitere Entwicklung bei Gauss; Johann Bolyai und Lobatschefski.i (1«3I— 1840) 35

II. Nachwirkung der GAUSSschen Gedanken 41

C. üonstige Beiträge zur Axiomatik.

10. Weitere Untersuchungen über die Grundlagen der Geometrie 42

II. GeometriasituB.

11. Allgemeines über die Geometria situs bei Gauss 4 9

12. Verknotungen und Verkettungen von Kurven so

13. MÖBIU8, Listing, Riemann .si

III. Die komplexen Grössen in ihrer Bezi ei,'i n g /, u r Geometrie.

14. Kreisteilung v . ^- *"

15. Elliptische, im besonderen lemniskatische Funktionen 80

1 6. Existenz der Wurzeln algebraischer Gleichungen «2

17. Biquadratische Reste BS

18. Benutzung der komplexen Grössen für geometrische Untersuchungen 64

19. Weiterentwicklung der Lehre von den komplexen Grössen 0 5

20. Komplexe Grössen mit melir als zwei Einheiten »7

IV. Elementare und analytische Geometrie.

21. Allgemeines "o

22. Das Dreieck 70

INHALTSVERZKICHNIS. 123

25. Das Viereck Seite 71

-M. Die Vielecke 74

26. Der Kreis und die Kugel

2B. Kegelschnitte und Flächen zweiter Ordnung 78

27. Sphärische Trigonometrie Si

V. Die allgemine Lehre von den krummen Flächen.

28. Entwicklung der Gr\indgedanken bis zum Jahre i s 1 1; , 84

29. Die Kopenhagener Preisschrift (1H2'.!) 88

30. Vorarbeiten zu den Allgemeinen Untersuchungen über die krummen Flächen (is22 1S25! S4 ai. Die Entstehung des Disquisitiones generales circa superficies curvas (l82fi 182") ... loi

3 2. Weitere Untersuchungen über krumme Flächen lufi

3 3. Bedeutung und Wirkung der Disquisitiones generales ilO

3 4. Bibliographischer Anhang 11«

Schlussbemerkung. 121

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3 Werke

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Bd. 10

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